Brigitte Bechter hat in über 30 Jahren als Neonatologin schon vielen Frühchen "über den Berg" geholfen

--> Reportage: "Eine Handvoll Mensch"

Foto: derStandard.at/Marietta Türk

"Früher waren die Krankenschwestern diejenigen, die gemacht haben und die Eltern sind daneben gestanden wie die Bittsteller", sagt Kinderärztin und Neonatologin Brigitte Bechter von der Rudolfstiftung in Wien. Im Interview erzählt sie, warum sie selbst Neugeborene, die an Schläuchen hängen, ihren Müttern auf die Brust legt. In 30 Jahren hat sie in ihrem Beruf schon vielen kleine Menschen "über den Berg geholfen", aber auch Trauriges erlebt.

derStandard.at: Welche Probleme haben die Neugeborenen auf der Neonatologie?

Brigitte Bechter: Das sind Frühgeborene, Kinder mit angeborene Infektionen, Herzfehlern oder Anpassungsproblemen nach komplikationsreichen Geburten. Sie werden in den Intensiv-Überwachungsbetten betreut. 

derStandard.at: Sie sind seit über 30 Jahren Neonatologin. Gibt es heute mehr Frühgeburten als früher?

Bechter: Durch die In-vitro-Fertilisation sind die Mehrlingsgeburten und die Frühgeborenenrate extrem in die Höhe geschnellt. Es wird viel jongliert, denn in Wien gibt es dafür ständig zu wenig Betten. Manchmal werden sogar Zwillinge getrennt und in verschiedenen Abteilungen untergebracht, was ich furchtbar finde.

derStandard.at: Was sind Ihre Aufgaben als Neonatologin?

Bechter: Neben den normalen Routineuntersuchungen betreue ich Risikogeburten: Kaiserschnitt, Saugglocke, Zangengeburt, Zwillinge, spontane Geburt aus Beckenendlage. Ich bin im OP dabei und beobachte ob ich gebraucht werde. Meine Aufgabe ist auch, die Interessen des Kindes zu vertreten. Und im Normalfall wissen Kinder, wann sie zur Geburt bereit sind. Daher stehe ich auch dem sogenannten Wunschkaiserschnitt ohne medizinische Indikation sehr kritisch gegenüber. 

derStandard.at: Warum sind Sie Neonatologin geworden?

Bechter: Ich wollte schon als Kind Babysitterin werden. Der zweite große Wunsch war die Medizin. Aber ursprünglich hatte ich nicht die Idee diese beiden Interessen zu verbinden. Denn primär wollte ich die Action der Chirurgie. Während meines Studiums bin ich dann zufällig zu einem Praktikum in der Kinderklinik Glanzing gekommen. Die Klinik gibt es nicht mehr, sie lebt aber im Wilheminenspital weiter. Das war in Wien das Kompetenzzentrum für Frühgeborenenintensivmedizin neben dem AKH. Die Kleinen und die Intensivmedizin haben mich dann gepackt, und ich habe nach dem Facharzt für Kinderheilkunde auch die Zusatzausbildung zur Neonatologin gemacht. 

derStandard.at: Was geschieht als erstes, wenn ein Frühgeborenes auf die Welt kommt?

Bechter: Die meisten Mütter bekommen einen Kreuzstich, sind also nicht in Vollnarkose. Nach dem Kaiserschnitt zeigen wir ihnen kurz das Baby. Dann kommt das Kleine kurz auf unseren Reanimationstisch um schauen, was es braucht. Geht es ihm halbwegs gut, versuchen wir es mit der Mama im Hautkontakt zu halten. Manchmal kann man sogar ein 1.300-Gramm-Kind unter Beobachtung eine halbe Stunde bei der Mama lassen. Gelingt das nicht, kann man diese Bondingphase später nachholen. Auch der Kindesvater kann in solchen Fällen das Bonding unmittelbar nach dem Kaiserschnitt übernehmen.

derStandard.at: Das heißt die Eltern haben relativ viel Kontakt mit den Frühchen?

Bechter: So viel wie möglich. Wir zertifizieren im Herbst als "babyfriendly hospital" und praktizieren familienorientierte Geburtshilfe (Projekt FAMOG, Anm.). Das bedeutet wir sind familien-, bindungs- und stillfördernd. Auch wenn das Kind an Schläuchen hängt, bemühen wir uns, es der Mutter auf die Brust zu legen ("Känguruhpflege"). Es hat sich herausgestellt, dass das für beide toll ist: die Kinder entwickeln sich viel rascher, die Eltern werden in ihrer Kompetenz gestärkt, die Babys können früher nach Hause gehen. Früher waren die Krankenschwestern diejenigen, die gemacht haben und die Eltern sind daneben gestanden wie die Bittsteller. FAMOG bedeutet: die Mutter macht, und wir unterstützen. Es ist uns wichtig, Eltern und Kind stets als Einheit zu betrachten und auf die individuellen Bedürfnisse der gesamten Familie einzugehen.

derStandard.at: Das war nicht immer so, oder?

Bechter: Vor 35 Jahren haben die Mütter die Kinder nach der Geburt nicht einmal gesehen. Sie durften nicht auf die Intensivstation, haben die Kinder im schlimmsten Fall drei Monate durch die Glasscheibe betrachtet. Bei der Entlassung sind die Babys den Eltern in die Hand gedrückt worden - und dann hat man sich über Interaktionsprobleme gewundert. Jetzt streben wir schon vor der Geburt Kontakt mit der werdenden Mutter an. 

derStandard.at: Was sind die häufigsten Gründe für Frühgeburten?

Bechter: Häufigster Grund sind Infekte der Mutter, oft aufsteigend über den Genitaltrakt. Können sie antibiotisch noch behandelt werden, können die Mütter nach drei Tagen wieder nachhause gehen. Ist der Infekt aber bereits fortgeschritten und die Wehen nicht mehr zu hemmen, bereitet man das Kind auf die Geburt vor.

derStandard.at: Wie funktioniert das?

Bechter: Die Mutter bekommt zweimal von den Gynäkologen eine Cortisonspritze. Das bringt die sogenannte Lungenreifung in Gang. Das Hauptorgan, das an Unreife leidet, ist nämlich die Lunge. Durch den künstlichen Stress bereitet sich das Kind auf die Geburt vor. Gleichzeitig werden die Wehen gehemmt, damit noch 48 Stunden Zeit bleibt. Das ist besser für das Baby.

derStandard.at: Was sind die Ängste der Eltern?

Bechter: Sie haben entsetzliche Ängste: wird das Baby überleben, wird es sich normal entwickeln, kann es behindert sein? Viele haben keine Ahnung wie so ein Frühgeborenes ausschaut. Wir zeigen ihnen deshalb die Station, zeigen ihnen Frühgeborene oder stellen sogar den Kontakt mit einer "frühgeborenen" Mutter her. Die Frauen sollen sich nicht ausgeliefert fühlen und die Väter miteinbezogen werden.

derStandard.at: Sagen Sie den Eltern, wenn der Zustand eines Baby kritisch ist?

Bechter: Ja. Aber manche Eltern wollen anfangs nicht wahrhaben, dass es ernste Probleme gibt. Wenn ich ein frühgeborenes beatmetes Kind habe, ist es schwer zu sagen es ist alles in Ordnung, weil das nicht so ist. Ich sage dann im Moment ist das Baby stabil und was das heißt: es hat Atemprobleme, es kann seine Temperatur noch nicht halten, es hat schwere Infektion, es kann noch nicht allein essen. Dann kommt meist die Frage: aber sonst ist alles in Ordnung? Das ist schwierig, aber ich bin schon bemüht so lange Hoffnung zu schüren solange Hoffnung da ist. 

Wir sind allerdings nicht das höchste Level der Frühgeborenen-Intensivmedizin, wie das AKH oder Donauspital. Selten versterben Kinder auf unserer Station. Wir transferieren die Kleinen, wenn sich ihr Zustand extrem verschlechtert. 

derStandard.at: Wie geht es Ihnen emotional, wenn ein Kind stirbt?

Bechter: Ich habe das früher öfter miterlebt in anderen Häusern. Manchmal rinnen uns auch die Tränen herunter. Bei Totgeburten haben wir gelernt die Mütter zu begleiten. Früher hat man gesagt, die Mutter soll das tote Baby gar nicht sehen. Wir ermuntern die Eltern aber mit dem Kind zu sein. Das ist erfahrungsgemäß für die Verarbeitung der Trauer besser. Ich betreue die Eltern danach weiter.

derStandard.at: Wann wissen Sie, dass ein Frühchen über den Berg ist?

Bechter: Im Normalfall dürfen wir hier erst Schwangere ab der 27. oder 28. Woche entbinden. Und von diesem Moment an ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es das Kind schafft. Es gibt aber schon Kriterien: wenn das Baby die Beatmungsmaschine nicht mehr braucht, der Kreislauf reguliert ist und die Infektionen im Griff sind - dann sind sie über den Berg. (Marietta Türk, derStandard.at, 26.9.2011)