Jetzt wäre eigentlich der Moment, in Wien eine moderne bürgerlich-liberalkonservative Partei zu gründen. Die Wiener ÖVP ist nicht mehr in der Lage anzugeben, wofür "die Partei auf der Welt ist" (Ursula Stenzel, Bezirksvorsteherin Innere Stadt). Stenzel meint auch, man müsse das tun, was Erhard Busek (1978 34 Prozent Stimmanteil) schon seit langem vorschlägt: Die "Wiener ÖVP neu gründen".

Wobei sich zunächst die Frage stellt: Besteht überhaupt Bedarf? Schauen wir uns das grob an: Die Wählerschaft der dominierenden Wiener SPÖ besteht aus Gemeindebediensteten samt Anhang, Pensionisten samt Anhang, einem Teil der angestellten Mittelschicht, tatsächlich noch einigen Arbeitern und einem kleinen Teil der jungen Intelligenz. Nachdem sie die Migranten in der letzten Zeit entdeckt hat, erzielt sie in diesem Bevölkerungssegment (44 Prozent der Wiener haben migrantischen Hintergrund) einige Erfolge.

Der große Herausforderer FPÖ hat die von der SPÖ enttäuschten Arbeiter und Pensionisten, die von der ÖVP enttäuschten Gewerbetreibenden und Beamten, sowie einen großen Teil der vom Staat alimentierten Unterschicht. Bei den Jungen mit niedrigerer Bildung sind sie sehr stark.

Die Grünen haben die jüngere Intelligenz, die Lehrer und Lehrerinnen, die meist gutverdienenden Bobos ("bourgeoise Bohemiens"), meist in kreativen Berufen und die Kinder (teils auch Frauen) des Bildungsbürgertums.

Die jetzige ÖVP hat die konservativen Kirchgänger, die schwarzen Beamten, einen Teil der Wirtschaftstreibenden und sonst nicht viel mehr.

In allen drei Parteien ist wahrscheinlich die Zahl der widerwilligen Wähler ziemlich hoch. Bedarf besteht in Wien für eine Partei, die sich an die urbane Mittelschicht wendet, der die SPÖ zu klassenkämpferisch und machtberauscht ist; die FPÖ zu hetzerisch und naziaffin; die Grünen zu altlinks und umsetzungsschwach und die ÖVP zu reaktionär-verstockt.

Bedarf besteht vor allem an einer Partei, deren Funktionäre nicht mehr das Politik-Politik-Spiel spielen, die die Leute nicht mit Beschönungs-und/oder Hetzphrasen verblöden wollen, die zeigt, dass sie den lähmenden Stillstand überwinden will und die - vor allem - ehrlich die beiden Dinge anspricht, die den Leuten die meiste Angst macht: die krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft und die Verunsicherung durch die eingebildeten oder tatsächlichen Probleme mit der Migration.

So eine Partei könnte auch "ÖVP neu" heißen. Der Name ist allerdings sehr belastet. So eine Partei müsste ja ihre Wähler von der SPÖ, den Grünen, der ÖVP und ein bisschen von der FPÖ und den Nichtwählern beziehen. Wie viele das wären? Keine Ahnung.

Aber wahrscheinlich genug, um die anderen unter Druck zu setzen und die Dinge etwas in Bewegung zu bringen. Damit in Wien zu beginnen, macht vermutlich Sinn: Es ist die Hauptstadt, hier sind die meisten politisch wachen Wähler, die Wiener ÖVP gibt soeben den Löffel ab. Man kann entweder die Wiener VP wirklich erneuern (unwahrscheinlich) oder was Neues probieren. (DER STANDARD-Printausgabe, 14.9.2011)