Wiwen - Vielleicht werden manche Romane aus banalen Gründen geschrieben. Möglicherweise suchen Autoren, wenn schon nicht den Frieden mit, sondern das Auskommen trotz ihrer Vergangenheit in Schlussdialogen wie diesem: ",Bin ich das alles auch?', fragte sie. Ihre Lippen zitterten. ,Du bist, wer du bist', sagte er."
Der 1964 geborene deutsche Autor Ferdinand von Schirach ist ein Enkel des ehemaligen NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Dieser zeichnete von 1941 an als Reichsstatthalter von Wien dafür verantwortlich, dass mindestens 60.000 Juden ermordet und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Sein Berufsleben als Strafverteidiger in Berlin verarbeitete Enkel Ferdinand in den beiden Erzählbänden Verbrechen und Schuld, beide Bestseller.
Ersterer versammelte authentische Fälle des Juristen, bei Letzterem versuchte Ferdinand von Schirach im Vorjahr, bei gleichbleibend schlanker und sachlicher, auf gar keinen Fall ein gefühliges Innenleben der Protagonisten zulassender Sprache, sein Berufsleben literarisch minimal zu erhöhen. Faszinierend an diesen beinahe antiliterarisch zu nennenden Textsammlungen: Schirach nimmt die Position des scheinbar teilnahmslosen Beobachters ein. Er schreibt, der Leser liest - und muss sich seine Meinung selbst bilden. Das verstört und ist Geheimnis des Erfolgs zugleich. Denken, so dieser zutiefst bildungsbürgerliche Ansatz, kann das Publikum ja selbst.
Mit seinem ersten Roman haben sich die Koordinaten etwas verändert. Ferdinand von Schirach hat es anlässlich des Erscheinens von Der Fall Collini nicht nur erst- und letztmalig für nötig befunden, im Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel über die eigene Position gegenüber dem eigenen Großvater zu schreiben. Auch im Roman selbst steht die Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes im Vordergrund. Den Ausgangspunkt des Romans bildet ein 1969 durch den deutschen Bundestag geschlüpftes Gesetz, das von einem ehemaligen NS-Richter betriebenen wurde, der im Deutschland der Nachkriegsjahre zu Ehren gekommenen war. Er hieß Eduard Dreher. Der als "Dreher-Gesetz" angesichts der damaligen Studentenunruhen weitgehend unbeachtete Gesetzesantrag wurde damals bis heute gültig beschlossen. Nazi-Verbrechen konnten und können laut dem Dreher-Gesetz verjähren, so sie im Sinne einer "Mittäterschaft" geschahen.
Vier Schüsse
Diesen Skandal nimmt von Schirach zum Anlass, um über einen Mord ohne ersichtlichen Grund zu erzählen. Er erzählt vom pensionierten italienischen Werkzeugmacher Fabrizio Collini, der im Frühjahr 2001 vom Schwabenland aus losfährt, um in Berlin den greisen Großindustriellen Jean-Baptiste Meyer mit vier Schüssen in den Hinterkopf zu töten. Ohne Angabe von Gründen. Collini bekennt sich schuldig, will sich aber zur Tat nicht einmal gegenüber seinem Pflichtverteidiger äußern, dem jungen Anwalt Caspar Leinen.
Dieser nimmt die Rechtsvertretung halb pflichtbewusst, halb interessiert auf sich. Abgründe tun sich fortan auf, zumal Leinen bald bemerkt, dass er biografisch involviert ist.
Trotz der weiterhin bestehenden Verweigerung von Schirachs, tiefer in seine Figuren zu dringen, ist Der Fall Collini zu einem eindringlichen Debütroman geraten. Deutsche Justizgeschichte verschränkt sich mit der Gleichgültigkeit der nachgerückten Vergessenwollenden. Die Frage nach Recht oder Gerechtigkeit, Verzeihen und Verstehen bleibt bis zum lakonischen Ende spannend. Sie wühlt auf, sie wirkt nach. (Christian Schachinger, DER STANDARD/Printausgabe 14. September 2011)