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Alpbach und sein Kongresszentrum: die perfekte Kulisse für großteils inhaltsleere Rhetorik.

Foto: APA/Parigger

Wenn Westeuropa Gespräche über Gerechtigkeit eröffnet, löst das bei den Menschen auf dem Balkan automatisch Sarkasmus aus, und zwar so ruckartig, wie eine Wildtierfalle zuschnappt: Zwanzig Jahre nach dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind die Verbrechen noch immer nicht bestraft worden. Die enervierend langsamen Mühlen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zermürben auch die Geduldigsten und Standhaftesten. Im ehemaligen Jugoslawien ist die Gerechtigkeit seit 20 Jahren in Wartestellung: Die Familien der Verschwundenen in Vukovar warten, die Familien der Ermordeten in Srebrenica warten, die Überlebenden der Vergewaltigungen, die Opfer der internationalen Friedenstruppen, sie alle warten immer noch. Wenn nun einflussreiche Vertreter aus Justiz, Politik und Wirtschaft in einem unheimlich ruhigen, fast unnatürlich perfekten Tiroler Dorf zusammenkommen und mit leeren Phrasen um sich zu werfen beginnen, wie etwa jene aus dem Titel des diesjährigen Europäischen Forums Alpbach (Gerechtigkeit, Verantwortung für die Zukunft), so mutet das für diese wartenden Menschen irgendwie absurd an. Gerechtigkeit, Verantwortung, Zukunft - was für ein nettes Triptychon abstrakter Begriffe; genügend Inspiration für wochenlange Diskussionen, bei denen rhetorische Fertigkeiten und gegenseitiger Respekt praktiziert werden und die die daran anschließenden netten Bankette und Cocktailpartys rechtfertigen.

Alles ist wunderbar in Alpbach: die sanft geschwungenen grünen Hügel, die mit üppig blühenden Petunien geschmückten Holzhäuser, umweltfreundliche Transportmittel und ein Sitzungssaal voller Intellektueller, die den Diskussionsteilnehmern höflich zuhören. Nichts könnte den Sarkasmus des Balkans besser nähren. Auf einer geführten Bergtour in einer Nachmittagspause zwischen den Vorträgen wird jemand aus dem ehemaligen Jugoslawien, anstatt in bewundernde Ausrufe auszubrechen, so etwas flüstern wie „Ich werde googeln, wie viele Serienmörder von hier stammen, ich wette mehr als fünf!" Und sollten während der Gespräche über internationale Gerechtigkeit einige Leute protestierend aus dem Sitzungssaal stürmen, so sind das wahrscheinlich Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien - unfähig, Geduld für das müßige, leere Gerede aufzubringen.

Ich stürmte nicht aus den Politischen Gesprächen, die letzte Woche im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach stattfanden. Aber hätte ich es getan, dann hätte ich keine Gelegenheit verpasst, intellektuell, moralisch und emotional von all dem zu profitieren, das ich im Kongresszentrum gehört hatte, das den Namen der Lyrikerin Paula von Preradović, der Verfasserin des Textes der österreichischen Bundeshymne, trägt. Es mag unfair sein, der Idee des Europäischen Forums Alpbach so negativ gegenüberzustehen. Eigentlich ist es keine schlechte Idee, ein paar hundert kluge Köpfe an einem netten Ort zu versammeln und über interessante Dinge sprechen zu lassen. Das Problem liegt jedoch darin, dass die Gespräche nie über die Ebene des Abstrakten hinausgehen: und das macht Alpbach faktisch zu einem Rekrutierungszentrum für aufstrebende Politiker. Hier lernen junge Menschen, wie man viel redet, ohne genug zu sagen.

Ja, ich bin mir dessen bewusst, dass ich hier zu weit gehe: Es ist nicht fair, eine Veranstaltung wie diese allein aufgrund meiner subjektiv hohen Erwartungen abzulehnen. Ich hatte den Slogan der ERSTE Stiftung als inoffizielles Motto des gesamten Forums missverstanden. „What would you change?" heißt es in einer Infobroschüre dieser philanthropischen Organisation, die es Menschen aus der Region ermöglicht, tatsächlich etwas in ihrem Umfeld zu verändern: im Sozialbereich, in der Kultur, in Gender-Fragen.

Hier ist noch ein Beispiel für den Balkan-Sarkasmus: Als wir bei unserer Ankunft gemeinsam mit dem Veranstaltungsprogramm auch ein schön verpacktes Stück Seife erhalten, ist der Kommentar meiner Journalistenkollegen aus dem ehemaligen Jugoslawien unisono: „Die Botschaft lautet: Wascht euch zuerst, ihr dreckigen Ostler!" So pflegen Menschen vom Balkan auf Konferenzen wie dieser zu reden: in der ironischen, sich selbst herabwürdigenden Art des Selbsthasses, der typisch ist für schlecht integrierte Immigranten. Das Europäische Forum Alpbach ist definitiv nicht für die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien zugeschnitten: Der Mangel an pragmatischen Lösungen macht uns argwöhnisch und nervös. Wir haben es satt, von Gerechtigkeit zu reden und vergeblich darauf zu warten.

Neben den Anklägern der Strafgerichtshöfe von Den Haag und Sierra Leone, EU-Parlamentariern und hohen Diplomaten, die aktiv am Europäischen Forum Alpbach teilnahmen, hieß das Tiroler Dorf auch einige KünstlerInnen, AutorInnen und MusikerInnen willkommen. Und erstaunlicherweise waren sie es, die sich mit dem Thema Gerechtigkeit auf die sinnvollste und substanziellste Weise befassten. Es ist die Performance des Rundek Cargo Trios in Alpbach und ihr Text über das harte Leben illegaler Immigranten aus Kurdistan, die uns weit mehr über Verantwortung nachdenken lassen als die sterilen Vorträge politischer Rhetoriker. Es ist der literarische Abend mit Ilya Trojanow und Nurrudin Farah - beides Autoren belletristischer Werke, die sich mit den (noch immer nicht aufgearbeiteten) Kriegsverbrechen in Somalia, der Ausbeutung der somalischen Gewässer in Wildwestmanier, mit Migration und Klimawandel beschäftigen -, von dem die Teilnehmer des diesjährigen Alpbach Forums am meisten profitiert haben.

In einer Zeit, in der die Symbiose zwischen Politik und Gerechtigkeit völlig aufgelöst ist, sind es Kunst und Kultur, die die Fähigkeit behalten haben, sich mit Gerechtigkeit auf geradlinige, einfühlende, menschliche Weise auseinanderzusetzen, sie von vagen Konzepten wie der „Verantwortung für die Zukunft" loszulösen und uns zu ermutigen, die wirklich wichtige Frage wahrhaftig zu beantworten: „Was würden Sie ändern?" Bis jeder von uns eine Antwort darauf gefunden hat, bieten perfekt organisierte politische Gespräche wie jene in Alpbach nur Podien, um sich in leerem Gerede zu üben. (Maja Hrgovic, derStandard.at, 12.9.2011, Kurzfassung in DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2011)

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