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Statt einen militärischen Triumph zu feiern, müssen die US-Kräfte in Afghanistan eine bittere Niederlage einstecken.
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Abdul Hakim Mujahid, Ex-Talib.

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DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe 9/11

Haben zehntausende Menschen umsonst ihr Leben verloren? Nach zehn Jahren Krieg am Hindukusch sind der Westen ebenso wie die Afghanen zutiefst ernüchtert und desillusioniert: Die Taliban könnten wieder an die Macht kommen

Nein, er habe keine vier Frauen, sondern nur eine, sagt Abdul Hakim Mujahid und schmunzelt. Früher war er ein Taliban-Kämpfer, vielleicht ist er es im Herzen immer noch ein wenig, auch wenn er mit Waffen nichts mehr am Hut hat. Von 1997 bis 2001 vertrat er die Gotteskrieger als Abgesandter bei der Uno in New York. Nun sitzt er in seinem Büro in Kabuls Innenstadt und überfliegt am Laptop seine Mails, ständig klingelt das Handy. Der 56-Jährige ist gefragt, seit ihn Präsident Hamid Karzai zum stellvertretenden Vorsitzenden des Hohen Friedensrates berief. Man braucht nun Männer wie Mujahid, die eine Brücke schlagen können zu Mullah Omar, dem Taliban-Chef, der sich irgendwo in Pakistans unwegsamen Grenzgebieten versteckt halten soll.

Der Westen bereitet seinen Abzug vor und will mit den Taliban verhandeln. Noch vor zehn Jahren schwelgten die USA und ihre Verbündeten im Triumph, nachdem sie mithilfe der Warlords die Taliban aus Kabul verjagt hatten. Dabei waren die meisten einfach nach Pakistan geflohen.

Heute ist man kleinlaut. Es geht nur noch darum, aus dem Schlamassel herauszukommen; wie man verhindert, dass wieder ein Bürgerkrieg entbrennt. Die USA schließen einen Deal nicht mehr aus, der die Taliban an der Macht beteiligen würde. Hätte man ein Abkommen nicht schon vor zehn Jahren haben können, wenn man die besiegten Taliban damals eingebunden hätte? Viele Experten bejahen dies.

Sicherlich hat sich einiges getan: Es wurden Straßen gebaut, Schulen und Hospitäler. Zumindest Kabul hat Strom. Und Afghanistan hat eine Verfassung, die zumindest formell demokratisch ist.

Aber das Einzige, was heute am Hindukusch wieder blüht, sind die Opiumfelder und die Korruption. 42 Prozent leben unter der Armutsgrenze, zwei von fünf Kindern sind unterernährt, 20 Prozent sterben vor dem fünften Geburtstag. Afghanistan hat die zweithöchste Kindersterblichkeitsrate der Welt. Noch immer schuften zehntausende Kindersklaven direkt unter den Augen der Internationalen Gemeinschaft vor den Toren Kabuls.

Bisweilen drängt sich die Frage auf, ob der Westen jemals ernsthaft im Sinn hatte, das Land wirtschaftlich aufzubauen. Experten schätzen, dass 80 Prozent aller Hilfsmilliarden zurück in die Geberländer fließen. Die Not könnte sich nach Abzug des Westens noch vergrößern: 60 Prozent des Bruttosozialprodukts hängen von den ausländischen Truppen ab.

Zu den dunklen Geheimnissen gehört auch die Zahl der Toten: Die Nato zählt fein säuberlich jeden toten ausländischen Soldaten – über 2700 seit 2001. Aber die zivilen Opfer zählen nicht. Auf 20.000 bis 40.000 wird die Zahl seit 2001 geschätzt. Aber wie viele davon Taliban und wie viele Zivilisten waren, lässt sich kaum prüfen. Wie ein Gespenst geht die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg um. Unvergessen ist, wie nach Abzug der Russen die Warlords das Land in Grund und Boden bombten – unter ihnen auch der vom Westen unterstützte und genau zwei Tage vor 9/11 getötete Ahmad Shah Massoud.

Viele sehen keine Zukunft in dem Land, in dem die Arbeitslosenrate bei 40 Prozent liegt. Die Gebildeten bemühen sich um Jobs und Studienplätze im Ausland. Andere zahlen Schleppern Unsummen. Der junge Mustafa vom Volk der Hazara will dagegen bleiben. Tagsüber studiert er Pharmazie, nachts fährt er Taxi. "Ich will meinem Land dienen", sagt er.

Viele fürchten ein Rache-Massaker, sollten die Taliban nach Abzug des Westens die Macht zurückerobern. "Dann bin ich tot", sagt Aziz Rafiee, Direktor des Forums für die afghanische Zivilgesellschaft. Gerade deshalb sieht er keine Alternative zu Gesprächen. Die Militanten müssten zurück in die Gesellschaft geholt werden, meint er. Der Westen müsse sicherstellen, dass sie die Demokratie und die Verfassung anerkennen.

Ähnlich äußert sich Soraya Parlika, Direktorin der Afghanischen Frauenvereinigung. Frauen, Tadschiken, Hazaras – sie sehen die ausländischen Truppen immer noch als Garanten ihrer Sicherheit an, doch ein gutes Zeugnis stellt kaum jemand dem Westen aus. "Die Russen haben hier mehr getan" , sagt Parlika. Viele Afghanen beklagen, dass sich die US-Soldaten wie Besatzer aufführen, dass nicht Kabul, sondern Washington ihr Land regiert.

Die Feindseligkeit scheint indes nicht einseitig zu sein. Abends, beim Bier in einem der sündhaft teuren Ausländerlokale, macht ein amerikanischer Helfer seinem Frust Luft. "Sie haben uns ins Gesicht gespuckt!", bricht es aus ihm heraus. "Wir haben die Nase voll von ihnen!" Er klingt beinahe hasserfüllt.

Andere, selbstkritischere Töne hört man von vielen Europäern. Ein französischer Diplomat zieht privat eine bittere Bilanz: "Wir haben in Afghanistan versagt. Wir haben die Menschen betrogen." (Christine Möllhoff aus Kabul, STANDARD-Printausgabe, 10./11.9.2011)