Reich an Paradoxien ist das Wirtschaftsleben: In der gegenwärtigen Wirtschaftslage könnten spürbare Konsolidierungsbeiträge der Vermögenden einer massiven Entwertung ihrer Vermögen vorbeugen.

Ausgangpunkt: In den letzten Wochen wurden die Aktienvermögen in drei Schüben um etwa 25 Prozent entwertet. Die erste Talfahrt beschleunigte sich am 1. August als der Schuldenkompromiss in den USA verkündet wurde: 10 Jahre lang sollen die Staatsausgaben gekürzt werden, Beiträge der Vermögenden sind ausgeschlossen. Der zweite Schub setzte am 16. August ein: Merkel und Sarkozy fordern für alle Euro-Länder Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild. Der dritte Schub begann am 31. August: Griechenland würde seine Budgetziele verfehlen und müsse noch mehr sparen. Alle drei „Schubauslöser“ verordnen ein „more of the same“. Dies sollte (Finanz)Vermögende freuen, doch sie bekamen es mit der Angst zu tun: Eine permanente Sparpolitik fast aller Industrieländer würde die Lage verschlimmern. Tatsächlich stellt eine Schuldenbremse eine Symptomkur dar. Sie impliziert: Der Schuldner ist schuld und hat es selbst in der Hand, durch strenge Diät zu gesunden. In der Realität entwickeln sich Einnahmen und Ausgaben des Staates aber in Wechselwirkung mit jenen der anderen Sektoren.

Wegen des „neoliberalen Smogs“ in ihren Köpfen kehrten die Eliten nach dem „Krisenschock“ wieder zu jenen Rezepte zurück, die in die Krise geführt hatten: Im Namen der Freiheit des Marktes durften Finanzakrobaten nicht nur weiter machen wie vorher, sondern weiteten ihre „Spiele“ auf die Spekulation gegen souveräne Staaten aus. Bei der Budgetkonsolidierung folgt man Reichskanzler Brüning: Je mehr gespart wird, umso besser.

Dass dies in die nächste Krisenphase führen muss, war erkennbar. Im Frühjahr 2010 als die Krise überwunden schien, schrieb ich in einem Büchlein: „Die schwierigste Phase der großen Krise liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Ein neuerlicher Rückgang der Aktienkurse bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen und zunehmendem Zweifel an der realen Deckung der Staatsschulden wird ohne kluge Gegensteuerung dazu führen, dass alle Sektoren versuchen, ihre Lage durch Sparen abzusichern: Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat. Das ist der Stoff, aus dem ökonomische Depressionen gemacht sind.“

Jetzt ist es soweit: Wie 2008 werden Aktien- und Rohstoffvermögen entwertet, diesmal auch noch die meisten Staatsanleihen, die Nachfrage von Unternehmen und Haushalten sinkt (nicht zuletzt durch Schrumpfen der zweiten und dritten „Säule“ der den Börsen anvertrauten Altersvorsorge). Was die Situation schlimmer macht als vor drei Jahren: Das Pulver der Fiskal- und Geldpolitik ist verschossen. Weiters: Das realkapitalistische China wird den finanzkapitalistischen Westen nicht mehr in gleichem Maß stabilisieren können wie 2009.

Vorsorglich schrieb ich daher in meinem Büchlein: „In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Dafür gibt es nur einen Weg: Er muss den Einkommensstärksten, insbesondere den Besitzern großer Finanzvermögen, spürbare Konsolidierungsbeiträge abverlangen, und zwar nicht aus sozialen, sondern aus ‚technisch-makroökonomischen‘ Gründen: Die ‚Finanzrentiers‘ reagieren darauf nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums, sondern ihres Sparens ...

Anders ausgedrückt: Den Arbeitnehmern muss wenigstens die Chance gegeben werden, gemeinsam mit den Unternehmern die Schulden des Staates gegenüber den „Reichen an Geld“ abzutragen. Dazu müssen letztere Konsolidierungsbeiträge leisten, mit deren Hilfe der Staat die Wirtschaft stimulieren kann.“

Dies gelang Roosevelt mit seinem „New Deal“ (bis 1937 nahm das US-BIP um fast 40% zu), Reichskanzler Brüning setzte hingegen auf Sparpolitik. Da es 3 Minuten vor 12 ist, braucht es Sofortmaßnahmen. Dazu ein Gedankenexperiment: Angenommen, die Vermögenden erklären sind bereit, mit zusätzlich 1 Mrd. Euro zur Finanzierung unseres Gemeinwesens beizutragen und ermöglichen damit Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Umwelt. Dann werden die Gesamteffekte ungleich günstiger ausfallen als wenn der Staat seine Ausgaben um 1 Mrd. Euro senkt.

Eine expansive Konsolidierungspolitik muss eingebunden sein in einen „New Deal“ für Europa, der unternehmerische Aktivitäten auf allen Ebenen besser stellt als Finanzakrobatik. Voraussetzung dafür ist, dass die zwischen der Real- und Finanzwirtschaft vermittelnden Preise (im Raum: Wechselkurs, in der Zeit: Zinssatz) stabilisiert werden (wie in den 1950er und 1960er Jahren oder im realkapitalistischen China). Ähnliches gilt für die Preise erschöpfbarer Ressourcen, insbesondere von Erdöl (zumal sein Verbrauch Hauptursache des Klimawandels ist).

Folgende Maßnahmen könnten rasch und ohne finanziellen Aufwand umgesetzt werden.

Erstens: Gründung eines „Europäischen Währungsfonds“ (EWF). Dieser finanziert die Euroländer durch Ausgabe von Eurobonds mit festen Zinssätzen (derzeit 2% bis 3%). Die Kreditvergabe wird an strikte Bedingungen geknüpft („Konditionalität“).

Zweitens: Vereinbarung zwischen den wichtigsten Notenbanken, die Wechselkurse innerhalb enger Bandbreiten zu stabilisieren. Dies hat in Europa zwischen 1986 und 1992 gut funktioniert, erst als die Bundesbank „ausstieg“, brach das System stabiler Kurse zusammen.

Drittens: Ankündigung und Umsetzung langfristiger Preis- und Lieferabkommen zwischen der EU und der OPEC zwecks Stabilisierung des Erdölpreises. Seit fast 40 Jahren machen seine grotesken Schwankungen notwendige Investitionen in die Energieeffizienz unkalkulierbar.

Viertens: Verbot bzw. Einschränkung jener Praktiken der Finanzakrobaten, die erwiesenermaßen die manisch-depressiven Schwankungen der Finanzmärkte verstärken wie etwa computergesteuerte Spekulationssysteme.

Fünftens: Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer in der EU oder auch nur im Euroraum. Diese dämpft die schnellen Spekulationen und würde den öffentlichen Haushalten erhebliche Erträge bringen.

Das größte Hindernis auf dem Weg zu einer realkapitalistischen „Spielanordnung“: Die Lernschwäche der Ökonomen. Die Geister, welche sie vor 40 Jahren gerufen hatten, werden sie so schnell nicht los. Anders gesagt: Ärzte, deren Therapie Teil der Krankheit ist, verstärken lieber die Dosis. (Stephan Schulmeister, DER STANDARD, Printausgabe, 9.9.2011)