Eine seltsame Geheimgruppe therapiert Verlassene, Einsame mit Zuwendung: Der Grieche Yorgos Lanthimos stellt im Wettbewerb von Venedig mit "Alpis" eine irritierende Gesellschaftsstudie vor.

Foto: Filmfestvial Venedig

"Dieser Film ist reines Kino! Ich hoffe sehr, dass Sie ihn mögen, anderenfalls werde ich mich umbringen!" Das ist eine Ansage: Amir Naderi, ein iranischstämmiger Regisseur, der seit einigen Jahre in den USA lebt, ließ vor dem Orizzonti-Screening von Cut keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er ein aufrichtiges Anliegen hat. Dabei hätte er solchen Nachdruck gar nicht nötig, befasst sich sein Film doch ohnehin mit der Rettung des Kinos.

Ein obsessiver Cineast betreibt darin am Dach seines Hauses in Tokio einen Filmclub. Heillos verschuldet, gerät er ins Visier einer Gruppe von Gangstern - da kommt ihm eine sonderbare Idee: Er wird sich gegen Geld auf einer Toilette verprügeln lassen - zwei Wochen lang. Die Kraft, um das durchzustehen, bezieht er aus der Liebe zum Film.

Zum Glück braucht man auf dem Festival von Venedig nicht annähernd soviel Leidensbereitschaft wie der Held aus Naderis Film. Seine kämpferische Wut hat dennoch etwas Reinigendes an sich. Da ist die geschmäcklerische Vordergründigkeit von Steve McQueens zweitem Spielfilm, Shame, beispielsweise rasch vergessen. Michael Fassbender, der in David Cronenbergs A Dangerous Method als C. G. Jung begeisterte, verkörpert einen Geschäftsmann aus New York, dessen Gedanken manisch um Sex kreisen.

Masturbation, Internet-Pornos und Prostituiertenbesuch, glühende Blicke in der Subway: Dem entfernten Wiedergänger von Bret Easton Ellis' (heute schon etwas unzeitgemäßen) Typus des "American Psycho" vermag McQueen keine Dringlichkeit zu verleihen, die über Naheliegendes hinausreicht.

Der Weltschmerz dieses Beziehungsunfähigen, die Konfrontation mit dessen suizidgefährdeter Schwester (Carey Mulligan) bleiben so klischeehaft wie die urbanen Ansichten, die McQueen durch kompositorische Raffinesse als Kunst verkaufen will.

Eine weitaus irritierendere Gesellschaftsstudie gelingt dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos mit Alpis. Wie schon in seinem preisgekrönten Debüt, Dogtooth (2009), geht es darin um eine Art Umdeutung der Realität, mit dem Ziel, deren Defizite besser beherrschbar zu machen. Es braucht eine Weile, bis sich die fragmentarisch gehaltenen Szenen, in denen der Bildhintergrund oft in Unschärfen verschwimmt, zusammenfügen und die Zielrichtung der "Alpen" an Deutlichkeit gewinnt. Es handelt sich um ein therapeutisches Projekt einer sonderlichen Geheimgruppe: Die Mitglieder dringen in Leben fremder Menschen vor, die kürzlich einen Verlust erlitten haben oder auch grundlos einsam sind, um eine Zeit lang als Substitute zu agieren.

Lanthimos entwickelt aus dieser originellen Grundidee Situationen, in denen alltägliche Abläufe so verfremdet werden, dass sie neue Sichtweisen auf Paar- und Familienkonstellationen erlauben. Zugleich ist Alpis eine kluge Reflexion über Realismus im Kino, dessen Geschlossenheit er unentwegt aufbricht.

Auch in der John-Le-Carré-Bestseller-Verfilmung Tinker, Tailor, Soldier, Spy des Schweden Tomas Alfredson (Let the Right One In) steht eine klandestine Truppe im Mittelpunkt. Sie macht allerdings weniger durch ihren Zusammenhalt als durch ihre Löchrigkeit von sich reden. Gary Oldman ist ein George Smiley von opaker Zurückhaltung. Dem Top-Agenten des britischen Secret Service wird die prekäre Aufgabe übertragen, einen Maulwurf in den höchsten Stellen des eigenen "Circus" ausfindig zu machen. Ein Unterfangen, das höchste Diskretion bei größter Gefahr verlangt.

Toast und Tweed

Tomas Alfredsons Auftrag ist allerdings nicht weniger heikel. Der Spionage-Klassiker aus dem Kalten Krieg, der schon einmal erfolgreich als TV-Mehrteiler mit Alec Guinness verfilmt wurde, ist ein einigermaßen komplexes Gebilde. Anzurechnen ist dem Film, dass er auf neumodische Aktualisierungen verzichtet und sich stattdessen mit viel Akribie an die Rekonstruktion des grau-beigen Glanzes von Klassikern wie Alfred Hitchcocks Torn Curtain macht.

Die verstaubten Büroanlagen, in denen Regierungsbeamte genüsslich ihr Toastbrot streichen, bereiten ebenso Freude wie die Tweed- und Cord-Anzüge an Schauspielgrößen wie John Hurt und Colin Firth. Dramaturgisch gelingt es Tinker, Tailor, Soldier, Spy jedoch nicht immer, die großen erzählerischen Bögen aufrecht zu erhalten. Der Film gleicht eher einer Kette aus Episoden. Das schwächt den Nährboden der Angst. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 6. September 2011)