Klaus Mihacek ist neuer ärztlicher Leiter von Esra.

Foto: DER STANDARD/Matthias Cremer

Standard: Traumatisierten wird je nach Auslöser des Traumas unterschiedlich viel Verständnis entgegengebracht: Viel, wenn sie eine Naturkatastrophe überlebt haben, weniger, wenn sie Flüchtlinge, also "Fremde" sind. Warum?

Mihacek: Das ist ein reines Politikum. Aus politischen Gründen wird auf das, was Flüchtlinge durchgemacht haben, keine Rücksicht genommen. Wir erleben immer wieder, dass Gutachten von Psychiatern, die eindeutig eine posttraumatische Belastungsstörung feststellen, nicht berücksichtigt werden.

Standard: Wie erklären Sie die Härte von Menschen gegen traumatisierte "Fremde" - die Unterstellung etwa, sie würden nur simulieren?

Mihacek: Weil sich viele gar nicht vorstellen können, was diese Menschen hinter sich haben und was für psychologische und somatische Auswirkungen das hat. Das ist ein Abwehrmechanismus, ein Reflex, vor dem auch Behördenvertreter nicht gefeit sind. Mit 1. Juli ist jetzt eine Asylnovelle in Kraft getreten, auf deren Grundlage binnen maximal einer Woche entschieden wird, ob jemand ein Asylverfahren in Österreich bekommt oder nicht - etwa weil er Traumatisierendes erlebt hat. Ich habe Angst, Juristen, die das entscheiden, wissen nicht, was ein Trauma ist.

Standard: Was tun?

Mihacek: Man muss Juristen und Verwaltungsbeamte schulen. Angebote dafür gibt es genug, auch von Esra, sogar für die Fremdenpolizei. Aber sie wurden bisher nicht angenommen.

Standard: Viel über Traumatisierung geredet wird nach spektakulären Kriminalitätsfällen. Nützen Diskussionen wie nach dem Fall Kampusch dem Verständnis?

Mihacek: Der Fall Kampusch war eher abträglich. Auch ihr selbst hat die Öffentlichkeit, so glaube ich, nicht geholfen.

Standard: Auch Kampusch wurde nach einiger Zeit nicht mehr geglaubt. Warum?

Mihacek: Wohl ebenfalls aus Gründen psychischer Abwehr. Und weil sie sich nicht als Opfer gegeben, keine Opferidentität hat.

Standard: Kann man mit einer Opferidentität überhaupt gesunden?

Mihacek: Sie erschwert es. Deshalb versuchen wir, unsere Klienten nicht als Opfer zu sehen, sondern als Überlebende. So haben wir es in den 1980er-Jahren mit den jüdischen Überlebenden der Shoah gehalten. So halten wir es mit anderen Shoah-Überlebenden, etwa den Roma und Sinti, für die wir zusammen mit dem oberösterreichischen Verein Gitani jetzt ein Projekt für psychotherapeutische Begleitung starten.

Standard: Macht das so viel Jahre nach der Shoah noch Sinn?

Mihacek: Ja, denn Roma und Sinti haben bisher kein solches Angebot bekommen. Aus berechtigten Gründen hegten sie außerdem ein ausgeprägtes Misstrauen gegen Einmischung. Wir bieten jetzt unter anderem Hilfe bei körperlichen Beschwerden an. Als Folgen der Shoah sind das oft Herz- und Lungenerkrankungen.

Standard: Haben die Betroffenen das Trauma all die Jahrzehnte seither verdrängt?

Mihacek: Sie haben versucht, sich eine Existenz aufzubauen. Das hat sie so beschäftigt, dass die Latenzphase des Traumas extrem lang war. Wenn die Existenz dann gegründet, die Pension erreicht ist, kommen die Erinnerungen vermehrt hoch. Hier setzen unsere Angebote an - und bei Angeboten für die Kinder der Betroffenen, der zweiten Generation.

Standard: Welche Art Unterstützung braucht diese?

Mihacek: Bei ihnen geht es um Hilfe bei Schwierigkeiten, sich von den Eltern abzulösen. Eines ist klar: Traumatisierung wird über die Generationen weitergegeben. (Irene Brickner/DER STANDARD, Printausgabe, 3./4. September 2011)