Jan Schmitts Mutter Mechthild nahm sich 1996 das Leben. Der Sohn recherchiert und bringt die grauenhafte Geschichte des sexuellen Missbrauchs zutage: Doku "Wenn einer von uns stirbt, geh' ich nach Paris".

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Jan Schmitt.

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STANDARD: "Wenn einer von uns stirbt, geh' ich nach Paris" lief 2009 in den Kinos. Was hat sich seither verändert?

Schmitt: Am Anfang war der Film seiner Zeit voraus. Der Sturm der Entrüstung brach mit dem 28. Jänner 2010 aus, als am Berliner Canisius-Kolleg Missbrauchsfälle öffentlich wurden. Das brachte eine Lawine ins Rollen. Das große Schweigen wurde gebrochen.

STANDARD: Glauben Sie, dass Ihr Film zu stärkerem Bewusstsein beigetragen hat?

Schmitt: Ich glaube schon, dass der Film einen Impuls gab. Es gab viele Leute, die im Kino den Film sahen und mir anschließend sagten: Mir ist es ebenso ergangen. Sie trauten sich, etwas öffentlich zu machen. Umgekehrt setzt man sich unverändert ungern mit den Folgen sexueller Gewalt auseinander. Ich denke, dass man nach wie vor das Thema schnell vom Tisch haben will. Man zahlt den Leuten eine Entschädigung, und dann soll möglichst wieder Ruhe einkehren.

STANDARD: Ist die Justiz machtlos?

Schmitt: Die Justiz ist tätig, das Problem ist die Verjährungsfrist. Die Täter können sich dadurch sicher fühlen. Sie werden nicht greifbar für die Justiz und müssen nicht dafür einstehen, was sie getan haben. Wenn ein Betroffener sich rührt, muss er womöglich mit einer Verleumdungsklage rechnen. Opfer haben lebenslang mit solchen Vorfällen zu kämpfen, psychisch und körperlich. Mein Eindruck ist, dass die Opfer auch Jahre danach nicht wieder auf die Beine kommen und alle den Tod in sich tragen.

STANDARD: Wie haben Ihre Angehörigen reagiert?

Schmitt: Die Familie mütterlicherseits hat sich von mir abgewendet. Das spiegelt das Motiv wider, wie mit Opfern umgegangen wird. Sie werden kaltgestellt, aus der Familie rausgebissen. Die Vorfälle waren der Familie hinlänglich bekannt. Dennoch wird jetzt wieder der Deckel darauf gesetzt, während die Familie väterlicherseits mir zur Seite steht.

STANDARD: Es gab Vorwürfe, Sie hätten mit den detailreichen Schilderungen die Persönlichkeitsrechte Ihrer Mutter posthum verletzt.

Schmitt: Ich sehe das anders. Als ich nach ihrem Tod in das Haus meiner Mutter gefahren bin, fand ich Tagebücher, die sie sorgfältig sortiert und mit Fotos, einem Gedicht, einem Abschiedsbrief offen ausgebreitet hat. Das war für mich wie ein Vermächtnis. Es sagte: Schau dir das bitte an. Ich fühlte mich aufgefordert und wollte wissen, was dahinter steckt. Mich motivierte zusätzlich , dass keiner in der Familie je darüber gesprochen hatte. Niemand von ihnen fragte, warum sie sich das Leben nahm. In mir entstanden Bilder, die erzählt werden mussten. Als ich die gesellschaftliche Dimension des Problems erkannte, war endgültig klar, dass ich daraus einen Film machen musste.

STANDARD: Hätte Ihre Mutter gewollt, dass Sie ihre Geschichte öffentlich machen?

Schmitt: Ich glaube schon. Sie war lange Zeit in Therapie und probierte alle möglichen Sachen, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie hatte dennoch immer wieder den Wunsch, sich selbst zu töten. Sie erschuf sich eine poetische Gegenwelt, der sie die Brutalität des Alltags entgegenstellte.

STANDARD: Gab es Feedback von Leuten, die sagten: Ich bin gegenwärtig betroffen?

Schmitt: Die Fälle, die sich nach oben spülen, passierten vor vielen Jahren. Dennoch ist es falsch, wenn der Eindruck erweckt wird, das seien alte, schlechte Dinge, und das sei kein aktuelles Problem. Ganz im Gegenteil. Wenn Kinder von sexueller Gewalt erzählen, wird das abgetan. Das war in den 50er-Jahren nicht anders als heute. (Doris Priesching/DER STANDARD; Printausgabe, 3./4.9.2011)