Susanne Körner ist Pädagogin, Sonder- und Heilpädagogin. Seit 15 Jahren arbeitet sie in ihrer Praxis in Wien Hietzing mit Kleinkindern, Kindern, Jugendlichen und deren Eltern. Bei Kindern, die Probleme haben, den Schreibdruck richtig zu dosieren, greift sie unter anderem auf "Tooties" zurück: kleine, unterschiedlich gefüllte Baumwollbeutel...

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... oder auf die Arbeit mit besonders weichen bunten Kreiden. "In meiner Praxis setze ich dort an, wo das Kind etwas gut kann. Übungen in vertrauten Bereichen mit winzigen, für das Kind spannenden Variationen, sind sinnvoll."

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"Der Wunsch der Gesellschaft ist, dass Kinder gerade am Tisch sitzen, wie wir Erwachsenen es meist auch tun. Wir können uns darauf verlassen, dass ein Kind spürt, was ihm gut tut. Es gibt Gründe, wenn ein sechsjähriger Bub beim Schreiben auch gerne mal wippt oder flach am Boden liegen möchte." (Susanne Körner)

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Schulbeginn. Für Kinder und Eltern eine aufregende Zeit - sei es nun in positiver oder in negativer Hinsicht. Laut Forschungsergebnissen des Institutes Dialego AG von Jänner 2010 macht handschriftliches Schreiben rund 80 Prozent der Schüler und Studenten europaweit zumindest einmal in ihrem Leben zu schaffen. Manche Eltern und Pädagogen setzen auf Üben, andere auf ergonomische Tische, Sessel und Schreiblernstifte. Wie zielführend ist das? Wir haben Susanne Körner, Sonder- und Heilpädagogin für Kinder und Jugendliche mit Praxis in Wien, gefragt.

derStandard.at: Was sind häufige Probleme beim Schreiben lernen, mit denen Sie konfrontiert werden?

Susanne Körner: Oftmals gelingen Schreibanfängern trotz viel Übung die Formen der Buchstaben nicht so gut wie sie selbst und ihr Umfeld - sprich Pädagogen und Eltern - sich das wünschen. Auch die Orientierung am Papier kann für ein Kind schwierig sein. Prinzipiell spielen beim Schreiben die Haltung des Körpers, der Schulter, der Hand im Speziellen sowie die Dosierung des Drucks eine große Rolle.

derStandard.at: Was ist notwendig um Schreiben zu lernen?

Körner: Das Schreiben als Kulturtechnik hat sich über lange Zeit der Menschheitsgeschichte entwickelt und macht uns zu dem, was wir sind: Menschen, die sich nicht nur verbal und grafisch, sondern auch mittels des geschriebenen Wortes ausdrücken können. Durch die Schrift teilen wir uns mit und drücken Gefühle aus.

Eine Vielzahl an Entwicklungsprozessen, die schon in den ersten Lebensjahren gelaufen sind, stellt die Basis für den Schreibprozess dar. Unter anderem ist eine gut ausgereifte Motorik Voraussetzung für das Erlernen des Schreibens. Die ersten motorischen Fähigkeiten legen außerdem die Basis zur Konzentration.

derStandard.at: Wie lernen Kinder schreiben?

Körner: Das Erlernen des Schreibens ist ein komplexer Prozess. Schauen wir uns das an einem Beispiel an: Ein kleines Kind kuschelt mit seinem geliebten Stoffhasen. Es ist emotional motiviert und will jetzt das Wort "Hase" zu schreiben versuchen. Dafür muss es schon sehr viel können und auch aktiv tun: Es muss "Hase" definieren können, also eine Vorstellung haben, was ein Hase ist. Es muss wissen wie das Wort "Hase" klingt. Das bedeutet, dass diesem jungen Menschen von vier, fünf oder sechs Jahren bereits bewusst sein muss, dass jedes Wort, das wir sprechen aus einzelnen Lauten besteht. Das ist ein hohes Wissen!

Was geschieht jetzt? Das Kind spricht sich das Wort "Hase" innerlich Laut für Laut vor. Das ist das Schwierigste am Schreiben! Das Kind denkt oder spricht also leise "H", dann versucht es den nächsten Laut des Wortes herauszuhören. Bis dieser Prozess gelingt, sind unzählige Versuche notwendig. Das dauert ganz lange und fordert höchste Konzentration.

Das Gehörte wird dem Gehirn kommuniziert und schließlich dem Auge mitgeteilt. Das Kind muss nun auch die grafische Form für den Laut kennen. Es muss wissen, dass wir für einen Laut ein bestimmtes schriftliches Zeichen verwenden. Nun muss diese Form von Auge und Hand auf das Papier gebracht werden. Wenn jetzt auch noch eine bestimmte Position am Papier für dieses bestimmte Wort gewünscht wird, erhöht sich die Schwierigkeit für die Zusammenarbeit von Auge und Hand enorm.

derStandard.at: Wann müssen Kinder schreiben können?

Körner: Jedes Kind hat seinen eigenen inneren Entwicklungszeitplan. Manche beginnen mit vier Jahren zu schreiben, andere beginnen mit sieben Jahren. Ein Kind beobachtet seine Umwelt und imitiert sie. Jedes Kind möchte schreiben können, wenn es diese Tätigkeit in seiner Umgebung als etwas Wertvolles und Wichtiges miterlebt. Es beginnt damit, wenn seine Zeit dafür reif ist.

Hier gilt es als Erwachsener respektvoll zu sein und warten zu können. Eine sensible Begleitung ist da notwendig, besonders, wenn sich ein Kind sehr schwer tut; beispielsweise beim Nachschreiben der exakten Formen. Es ist wichtig hier Raum und Zeit für Entwicklung zu lassen und nicht korrigierend auf das Kind einzuwirken.

derStandard.at: Handy, Gameboy, Computer... Viele Kinder sind bereits sehr früh mit Tastaturen konfrontiert, oft schon bevor sie das handschriftliche Schreiben erlernen...

Körner: Meiner Meinung und langjährigen Erfahrung nach ist es zu hinterfragen, ob Kinder bereits in einem sehr frühen Alter diesen umfassenden medialen Zugang brauchen. Mediale Apparate stimulieren meist nur einen Sinneskanal. Ich plädiere dafür, Kinder im Vorschulalter aktiv vielfältige sinnliche Erfahrungen machen zu lassen. Diese hängen mit körperlicher Wahrnehmung und Bewegung zusammen.

derStandard.at: Studienergebnisse amerikanischer Neurologen sprechen für das handschriftliche Schreiben und münden in der Erkenntnis: Die Motorik regt Denkprozesse an. Können Sie das bestätigen?

Körner: Diese Aussage kann ich klar unterstreichen. Das Gehirn reift umso mehr, je mehr ich ein Kind seine Umgebung sinnlich erfahren lasse. Das geschieht im Alltag auf natürliche Art und Weise. Dafür genügt es, in den Hof oder den Grätzelpark zu gehen und das Kind sich mit den Dingen vor Ort beschäftigen zu lassen. So ist es beispielsweise eine lustbetonte und ganzheitliche Tätigkeit mit einem Ast in Sand oder Erde zu malen. Auch Bewegungen, das Schaukeln, Dreirad- oder Rollerfahren wirken sich auf den Schreibprozess aus: Wenn ein Kind aktiv lebt, verfügt es über die besten Voraussetzungen für späteres Lernen, und auch das Schreiben lernen.

derStandard.at: Gibt es eine optimale Schreibhaltung?

Körner: Nein, für jeden Menschen ist die Haltung, die er von sich aus augenblicklich einnimmt, die beste. Der Wunsch der Gesellschaft ist, dass Kinder gerade am Tisch sitzen, wie wir Erwachsenen es meist auch tun.
Wir können uns darauf verlassen, dass ein Kind spürt, was ihm gut tut. Es gibt Gründe, wenn ein sechsjähriger Bub beim Schreiben auch gerne mal wippt oder flach am Boden liegen möchte. In eine gute Konzentration hinein zu finden, ist für Schulkinder ganz viel Arbeit. Nicht immer ist das Kind in allen Entwicklungsbereichen gut ausgereift. Es hat aber Kompensationstechniken entwickelt, die ihm helfen sich bei dieser schweren Arbeit des Schreibens besser konzentrieren zu können. Winzige motorische Ausgleichsbewegung wie Wippen helfen dabei, konzentriert zu bleiben und erfolgen unbewusst. Hier gilt es als Erwachsener tolerant zu sein und die großartige "Selbsthilfe", die diese Kinder sich instinktiv leisten, so gut es geht, zuzulassen.

derStandard.at: Wie gehen Sie vor, wenn ein Kind mit einer Schreibstörung zu Ihnen in die Praxis kommt?

Körner: Wenn ein Kind bereits mit Leidensdruck kommt, ist immer große Sensibilität von Nöten. Hier ist Vertrauensaufbau und wertschätzende vorbehaltlose Annahme wichtig. Zwei kleine Beispiele: tropfenartig geformte Kreiden sind gut geeignet, wenn ein Kind mit der Handhaltung der Schreibhand Schwierigkeiten hat. Oder bei Problemen den Schreibdruck mit dem Schreibgerät richtig zu dosieren, sind Tooties ein gutes Material. Mit diesen kleinen, unterschiedlich gefüllten Baumwollbeuteln können feine Gewichtsunterschiede gut gespürt werden.

derStandard.at: Viele Eltern und Pädagogen setzen nach wie vor auf Üben, Üben, Üben...

Körner: Grundsätzlich gilt: Ich kann nichts üben, was ich nicht kann. In meiner Praxis setze ich dort an, wo das Kind etwas gut kann. Übungen in vertrauten Bereichen mit winzigen, für das Kind spannenden Variationen, sind sinnvoll. Üben bedeutet Wiederholung um sich weiterzuentwickeln. Üben heißt aber vor allem Tätigkeiten zu wiederholen, die ich in diesem Moment sinnvoll und wichtig finde. Um sinnvoll für die Entwicklung zu bleiben, ist Übung immer von dem jeweiligen Menschen aus zu sehen und kann nicht von außen fremdbestimmt sein.

derStandard.at: Montessorischulen, die Walz, kreativer Förderunterricht... Wer über das nötige Kleingeld verfügt, kann seinem Kind die feinsten pädagogischen Angebote eröffnen. Ist es einer Elite vorbehalten, sein Kind der Praxis der Sonder- und Heilpädagogin Susanne Körner anzuvertrauen?

Körner: Ich versuche, meine Tarife so zu gestalten, dass es für jeden erschwinglich ist, zu mir zu kommen. Oft genügt es, Gespräche mit den Eltern zu führen. Auf gravierende Änderungsmaßnahmen setze ich nur dann, wenn viel Leid beim Kind da ist. Wenn es aber nur die Umgebung ist, die sich durch ein Kind gestört fühlt, rate ich ihr zu mehr Toleranz. 

derStandard.at: Ihre Wünsche an das Schulsystem?

Körner: Viele Pädagogen wissen zum Glück heute, dass kein Kind böswillig oder absichtlich unkonzentriert ist. Ideal wäre, wenn von Seite der Schule der individuellen Schreibposition jedes Kindes entsprochen werden könnte und jedem Kind ausreichend Zeit für seine Schreibentwicklung gelassen würde.

Ich wünsche mir mehr reformpädagogische Philosophie an den Regelschulen. Damit meine ich nicht unbedingt den Einsatz von klassischem Montessori-Material, sondern vielmehr die Haltung dem Kind gegenüber: eine wertschätzende respektvolle Position. Jedem Kind soll das Vertrauen entgegengebracht werden, selber zu wissen was es wann braucht. Es sollte liebevoll, konsequent und kompetent in seinem Lernprozess begleitet werden. Und zwar nicht nur ein langsames, sondern auch ein schnelles Kind! Weiters wünsche ich mir eine Selektion der Schulform in einem fortgeschritteneren Alter. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 06.09.2011)