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Tschetschenien kommt nicht zur Ruhe. Erst am Dienstag starben bei einem Selbstmordanschlag in der Hauptstadt Grosny wieder neun Menschen. Der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger beschreibt im Gespräch mit derStandard.at die aktuelle Situation, analysiert mögliche Hintergründe und zeigt Lösungsszenarien auf.

derStandard.at: Wie beurteilen Sie die aktuelle sicherheitspolitische Lage in Tschetschenien nach dem jüngsten Selbstmordanschlag in der Hauptstadt Grosny?

Schmidinger: In den letzten Jahren ist es Ramsan Kadyrow, dem von Russland eingesetzten Präsidenten Tschetscheniens gelungen mit einer extrem autoritären Politik die Sicherheitslage zu verbessern. Der Preis dafür war die Errichtung einer Schreckensherrschaft der so genannten Kadyrowzy, also der berüchtigten Paramilitärs und Polizeikräfte des Regimes. Die in ein islamistisches und nationalistisches Lager gespaltene bewaffnete Opposition wurde damit aber nicht völlig besiegt. Insbesondere das islamistische Lager, das sich in den letzten Jahren auch an internationale gihadistische Netzwerke angenähert hat, wurde damit nur in andere Teile des Nordkaukasus abgedrängt. Während Tschetschenien also dank der extremen Repression relativ sicherer wurde, ist die Sicherheitssituation in anderen russischen Republiken des Nordkaukasus zunehmend schlechter geworden.

derStandard.at: Das heißt, die Gewalt hat sich von Tschetschenien auf die Nachbarrepubliken verlagert?

Schmidinger: Besonders schlecht ist die Sicherheitssituation derzeit in Dagestan, wo auch eine nicht zu vernachlässigende tschetschenische Minderheit in der Region um die Stadt Chassawjurt lebt. Obwohl sich die Gewalt teilweise in die anderen nordkaukasischen Republiken verlagert hat, hat der Anschlag vom Dienstag einmal mehr demonstriert, dass auch Tschetschenien selbst nicht sicher ist. Die Region ist weiterhin als Krisengebiet zu werten und weit davon entfernt für die Bevölkerung sicher zu sein.

derStandard.at: Welche Gründe gibt es für die andauernde Gewalt im Kaukasus?

Schmidinger: Der letztlich auf den russischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts zurückgehende Konflikt um die Unabhängigkeitsforderungen der Tschetscheninnen und Tschetschenen wurde nicht gelöst, sondern nur mit Gewalt unterdrückt. Da sich der Westen nicht um die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in der Region gekümmert hat, konnten im letzten Tschetschenienkrieg immer mehr gihadistische Gruppen, die vielfach aus dem Mittleren Osten und nicht aus der Region selbst kamen, in Tschetschenien Fuß fassen. Tschetschenien wurde dadurch für viele dieser Gruppen zu einem Schauplatz des Gihads gegen die Ungläubigen.

derStandard.at: Welche Rolle spielte Russland?

Schmidinger: Die russische Regierung hat diese Entwicklung benutzt um jede Unabhängigkeits- und Autonomieforderung in Tschetschenien gleich als terroristisch zu denunzieren. Letztlich haben wir es im Nordkaukasus mit einem anhaltenden Kolonialkonflikt zu tun, der durch externe Player zusätzlich verschärft wird.

derStandard.at: Inwieweit sind die politischen Strukturen Tschetscheniens durch mafiaähnliche Verbindungen durchwandert?

Schmidinger: Ich würde nicht sagen, dass diese Strukturen durch mafiaähnliche Verbindungen durchwandert sind, sondern, dass sich die politischen Strukturen selbst oft mafiaähnlichen Methoden bedienen. Unter den Kadyrowzy befinden sich viele Kriminelle und Ramsan Kadyrow selbst ist der Kopf dieser kriminellen Organisation, die leider auch in Westeuropa aktiv ist und gegen tschetschenische Oppositionelle vorgeht. Auch in Österreich gab es leider nach dem Mord an Umar I. 2009 kein Interesse die politischen Hintergründe dieses Mordes ausreichend zu beleuchten.

derStandard.at: Welche Lösungsansätze gäbe es, um die nun seit Jahrzehnten andauernde Gewalt in Tschetschenien einzudämmen?

Schmidinger: Heute ist eine politische Lösung dieses Konfliktes viel schwieriger, als es in den 1990er-Jahren gewesen wäre. Grundsätzlich müsste es dazu aber die Bereitschaft geben eine politische Lösung anzustreben, die auf demokratischen und menschenrechtskonformen Vorgangsweisen basiert und die auch das Selbstbestimmungsrecht der nordkaukasischen Bevölkerungsgruppen mit einschließt. Letztlich müssen die Tschetscheninnen und Tschetschenen selbst über ihre Zukunft entscheiden können.

derStandard.at: Könnte Tschetschenien eine solche Entwicklung alleine schaffen?

Schmidinger: Eine so nachhaltig vom Krieg zerrüttete Gesellschaft würde auch intensive Hilfe der internationalen Gemeinschaft benötigen und zwar auf allen Ebenen: ökonomisch, politisch und mit dem Aufbau einer professionellen psychotherapeutischen Versorgung einer traumatisierten Gesellschaft. Im Moment sehe ich für eine solche friedliche Lösung des Konflikts allerdings leider keinerlei Ansätze. (Elin, derstandard.at, 1. September 2011)