Mitglieder einer Bürgerinitiative demonstrieren vor Beginn der Verhandlung über die dritte Piste in Schwechat. Sie fürchten durch mehr Flugverkehr um ihren Schlaf und ihre Gesundheit.

Foto: Christian Fischer

Schwechat - Paul Sekyra ist es gewohnt, Grundsätzliches zu erörtern. Wo hören die persönlichen Freiheiten auf und wie sehr darf der Staat sie einschränken? Wie viel Willkür steckt in jeder Grenzziehung, wo liegt die Grenze jeder wissenschaftlichen Erkenntnis? Täglich diskutiert der kleine Mann mit dem stolzen Schnurrbart solche Fragen, um eine Antwort zu finden auf die große Frage, die dahinter steht: Darf der Flughafen Wien eine dritte Piste bauen?

Bis zu 100 Starts und Landungen sollen dann in Spitzenzeiten pro Stunden möglich sein, etwa ein Drittel mehr als jetzt. Nur so kann der Passagierstrom von und nach Österreich bewältigt und Wien als Drehkreuz für Osteuropa erhalten werden, argumentieren die Flughafenbetreiber.

Sekyra ist Mitarbeiter der niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Umweltrecht. Er leitet die öffentliche Verhandlung zur Umweltverträglichkeitsprüfung des "Projekts Parallelpiste 11R/29L", die seit Montag abgehalten wird. Insgesamt acht Tage wird er auf einer Bühne in der Mehrzweckhalle Multiversum in Schwechat sitzen, umgeben von einer Phalanx aus 23 Wissenschaftlern, die erklären sollen, warum der Flughafen die Piste bauen darf. Im Parkett sitzen 100 erboste Anrainer, die das Gegenteil beweisen wollen. 13,7 Stunden Anhörung hat Sekyra bis Mittwoch bereits hinter sich.

Verhandlung

An diesem Tag werden jene Punkte verhandelt, die Flughafenanrainer am meisten beschäftigen: Lärmschutz und Umwelthygiene, die Frage also, ob Anrainer nachher noch schlafen können oder ob sie krank werden vom dauernden Lärm der Flieger.

Die Gutachten, die diese Fragen beantworten sollen, haben Klaus Scheuch und Engelbert Schaffert erstellt, zwei Professoren aus Berlin, führende Experten ihres Fachs, mit grauen Haaren, dünnen Brillen und der Aura gütiger Großväter. Schaffert redet über die Varianzen in Lärmprognosen, die nicht absehbare technische Entwicklung bei Flugzeugen, berücksichtigte Worst-Case-Varianten und die Lärmschutzvorschläge des Flughafens, die technisch auf dem neuesten Stand seien.

Scheuch erklärt das Problem der Wissenschaft mit Grenzwertsetzungen, wie der Durchschnitts- und wie der Maximalpegel bestimmt wird und warum manche Beschwerdeführer sich dabei vertan haben. Beide verweisen auf Studien, Tagungen und andere Autoren, im Publikum ernten sie immer wieder Kopfschütteln und bitter-hämisches Gelächter.

Ein Pensionist aus Zwölfaxing kommt während des Vortrags erbost zum Podium und teilt Verhandlungsführer Sekyra mit, dass er nur "50-Prozent-Schallschutzfenster" bekommen hat, weil er auf der falschen Seite des Flusses wohnt, dort, wo die Belastung ein Dezibel unter dem Grenzwert liegt.

Rechtsstaat in Toilettenpause

Ein Mann, der sich als "Anrainer aus Liesing" vorstellt, kommt ans Mikrofon und erzählt mit Grabesstimme und dramatischen Pausen von der "Lärmzumutung", die nun zum "Lärmterror" wird, von Gesprächen, die in seinem Garten durch das Flugzeugdröhnen "ersterben", und dass jeder herzlich eingeladen sei, bei ihm vorbeizukommen und es selbst zu hören. Kurz vor der Mittagspause kritisiert noch ein Wissenschafter des Instituts für Umwelthygiene das Scheuch'sche Gutachten als voreingenommen und fehlerhaft.

Am Weg zur Toilette passt der Zwölfaxinger Pensionist Verhandlungsleiter Sekyra ab und diskutiert mit ihm über Rechtsstaat, Korruption und die Praxis der Gemeinden, Flächen als Wohngrund zu widmen, bei denen absehbar ist, dass es über ihnen bald lauter wird. Sekyra bleibt ruhig, er hat mit deutlich mehr Leuten bei der Anhörung gerechnet. Am Donnerstag wird die Verhandlung fortgesetzt. (Tobias Müller/DER STANDARD-Printausgabe, 1.9.2011)