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Kleine Zeichen für einen langsamen Wandel innerhalb einer konfliktreichen Gesellschaft: die Künstlerin Khadija Hashemi in Kabul vor ihrem Gemälde, das Klischeebrüche thematisiert.

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Ein Junge schickt sich an, unter den Argusaugen eines Lehrers mit Präzision eine Postkarte nachzuzeichnen - das ist keine Szene aus dem Schulunterricht, sondern Alltag in Afghanistan. Die Kunst war lange wenig innovativ und nur Männern vorbehalten. Ob an der Universität der schönen Künste (Kabul) oder der Hochschule (Herat), Realismus blieb die einzig akzeptierte Stilrichtung. Kunst bemaß sich danach, wie präzise man imitierte.

Eine Kunstausstellung in Kabul scheint dieses Rollenmuster sorgsam aufzubrechen. Die rund 50 Werke, die von Collagen über Videos bis hin zu Skulpturen reichen, widmen sich Themen wie Umwelt oder Gleichberechtigung. Die Ausstellung ist doppelt bemerkenswert: Zum einen stammen die Stücke alle von Frauen, zum anderen sind sie der modernen Kunst zuzuordnen, eine Sensation in einem Land, in dem die Taliban den öffentlichen Diskurs im Keim erstickten und 80 Prozent der Frauen Analphabetinnen sind.

Die Institutionalisierung der Kunst begann in Afghanistan sehr spät. Im Jahr 1921 gründete der reformerische König Amanullah Khan die ersten Institute der schönen Künste. Seine Politik der Modernisierung stieß bei den religiösen Autoritäten jedoch auf wenig Gegenliebe, die Mujahidin sahen islamische Werte in Gefahr. Auf Druck der reaktionären Kräfte musste Amanullah abdanken. In der Folgezeit fristete die Kultur ein Schattendasein. Kriege überzogen das Land, Korruption lähmte; die einflussreichen Clans interessierten sich mehr für Kalaschnikows als für Kunst.

Die Scharmützel der Vergangenheit haben Spuren hinterlassen. Von den 34 Provinzen bieten nur zwei einen künstlerischen Studiengang an: Herat und Kabul. Kein Wunder, dass die Studentenzahl bisher überschaubar blieb. "Das Programm der Kunsteinrichtungen hat sich seit Jahren nicht verändert", so der Chef des Zentrums für zeitgenössische Kunst (CCAA), Rahraw Omarzad.

"Die Studenten arbeiten größtenteils mit Modellen und reproduzieren Fotos. Das ist fatal für die Kreativität." Der Grund, weshalb die Disziplin so stiefmütterlich behandelt wird, liegt auf der Hand. Kunst und Kultur wurden von den Taliban bekämpft. Jedes Artefakt stand zum Abschuss frei. 2001 zerstörten sie die weltberühmten Buddha-Statuen von Bamiyan sowie andere Kunstschätze. Der Koran, so die Lesart der Fundamentalisten, verbiete jede Darstellung des Menschen. Wer dem widersprach, wurde verfolgt. Niemand traute sich, etwas mit Kunst anzufangen.

Alam Farhad, der seit 1993 am CCAA lehrt, sagt: "Während des letzten Jahrzehnts war Kunst das am geringsten nachgefragte Fach." Und diejenigen, die sich für Kunst einschrieben, hätten meist die Prüfungen für Medizin oder Recht nicht bestanden - Kunst als Studium zweiter Klasse. Mit dem Sturz der Taliban änderte sich die Situation. Auf einmal erklang wieder Musik in den Straßen Kabuls, entstanden kleine Theater und Kinos, strahlten Radiostationen Sendungen aus. Die Menschen wandten sich wieder der Kultur zu. Davon zeugt auch das Interesse am Zentrum für zeitgenössische Kunst. "Heute zählt das Institut 700 Studenten, darunter 20 Prozent Frauen", freut sich Farhad. "Manchmal müssen wir Bewerbungen sogar ablehnen, da die Kapazität nicht ausreicht." Mit der Verbreitung audiovisueller Medien wächst die Erkenntnis, dass hinter den Programmen kreative Köpfe stecken. Und die müssen ausgebildet werden. "Wenn sich die Jungen jetzt dafür interessieren", sagt Farhad, "liege das daran, dass der Markt ihre Fähigkeit honoriert."

Digitale Animation

Das CCAA hat auf diese Entwicklung reagiert und zwei neue Fächer eingeführt: Digitale Animation und Film. Die Erweiterung des Angebots stieß auf Resonanz: 94 Eleven schrieben sich ein, darunter 53 junge Frauen.

Für Afghanistan ein absolutes Novum. Schließlich ist es nicht lange her, dass Frauen nur mit Erlaubnis ihres Ehemanns auf die Straße durften und ihnen der Schulbesuch verweigert wurde. Unter Berufung auf die "purda", einen archaischen Wertekanon, durfte der Mann der Frau diktieren, was er wollte. Auch heute, zehn Jahre nach dem Machtverlust der Taliban, werden Frauen in der patriarchalischen Stammesgesellschaft marginalisiert. "87 Prozent von ihnen", so schätzt die UN-Frauenorganisation Unifem, "leiden unter häuslicher Gewalt." In ihrer Verzweiflung verbrennen sich jedes Jahr hunderte Frauen. Sie übergießen sich mit siedendem Öl und sterben einen qualvollen Tod. Das Phänomen existiert überall in Zentralasien. Es gilt aber als Tabu. Mit seinem Stück Sang blanc (Weißes Blut) hat Regisseur Laurence Levasseur das Thema aufgegriffen und die traumatischen Erlebnisse in einem Theaterstück verarbeitet. Seine Inszenierung, die im April im Théâtre de Chaillot in Paris aufgeführt wurde, hielt die Pein plastisch vor Augen.

Kunst schafft Öffentlichkeit

Auf diesen Effekt setzt auch Rahraw Omarzad vom CCAA: "Die Kunst schafft es, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren", sagt er. Die Bilder, die in seinem Haus in nie da gewesener Weise präsentiert werden, zeugen von Gewissenskonflikten und Rollenproblemen. Auf dem Internetauftritt sind einige Exemplare einsehbar. Mal sind es abstrakte Figuren, mal detailreiche Porträts. Ein Bild der Künstlerin Khadija Hashemi ist besonders beeindruckend: Es zeigt eine Nahaufnahme einer Frau, deren Gesicht in zwei Teile aufgespaltet ist: Die linke Hälfte zeigt eine moderne Frau mit hellem Haar und Farbflecken, die rechte Hälfte ein blasses Abbild einer Frau mit Kopftuch (www.ccaa.org.af). Ob dieser Kontrast den Bruch der afghanischen Gesellschaft symbolisiert? Ihren Weg vom Steinzeitfundamentalismus in die Moderne weist? Die Ausstellung lässt Raum für Interpretationen. (Adrian Lobe aus Kabul, DER STANDARD/Printausgabe 26.8.2011)