Das Tunnelsystem war eines der am besten gehüteten Geheimnisse der Sowjetunion: Anfang der fünfziger Jahre ließ Stalin im Moskauer Untergrund einen riesigen Bunker anlegen. Heute wird dort Besuchern die Geschichte des Kalten Krieges vermittelt - simulierter Atomraketen-Abschuss inklusive.

Das Jahr 1952: In Ostasien tobt der Koreakrieg, auf Kuba putscht sich Fulgencio Batista an die Macht, in Ägypten und Jordanien vertreiben Militärs die jeweiligen Potentaten - und Stalin gräbt sich ein. Seit August 1949 befanden sich der sowjetische Diktator und damit die UdSSR im Besitz der Atombombe. Seitdem lieferten sich die Sowjets mit den USA ein nukleares Wettrüsten.

Cold War Museum

Der Erstflug des US-amerikanischen Langstreckenbombers B-52 Stratofortress im Jahr 1952 dürfte die Entscheidung Stalins wohl beschleunigt haben. Moskau lag am Präsentierteller der US Airforce. In jenem Jahr erteilte der Generalissimus den Auftrag für eine gigantische Bunkeranlage im Herzen der russischen Metropole. Vier jeweils 160 Meter lange Röhren ließen die Ingenieure ins Erdreich der Hauptstadt graben. 65 Meter tief, atombombensicher - und natürlich unter strenger Geheimhaltung.

Cold War Museum

Bis vor zehn Jahren wussten nur Militärs und eingeweihte Politiker von dem Tunnelwerk. Seit 2006 - kurz zuvor erstand ein privater Investor die ehemalige Militäranlage - ist der Bau für Keller-Aficionados zugänglich. Seitdem beherbergt Stalins Atombunker ein "Museum des Kalten Krieges", wie die Besitzer die Anlage etwas euphemistisch nennen. Tatsächlich ist der einst geheime Unterstand eine der bizarrsten Touristenattraktionen Moskaus.

Cold War Museum

Vier Jahre lang gruben sich 2500 Arbeiter durch das Erdreich unterhalb des Taganskaja Platzes. Der Standort im Südwesten des Stadtzentrums war strategisch klug gewählt. Die Nähe zur kurz zuvor eröffneten U-Bahnstation gewährleistete einen Anschluss an das Metro-Netz. Zudem lag der Kreml, die Machtzentrale des Landes, nicht weit entfernt. Hier werkten nicht zuletzt die Nutznießer der Katakomben: Offiziere und militärische Strategen. Vor allem für sie war die klandestine Anlage gedacht.

derStandard.at

Nur wenige hundert Meter ist der Aufgang der U-Bahnstation Taganskaja vom Museum entfernt. Hier, im Zentrum des Viertels, buhlen Cafés und Imbissbuden um Kunden, doch ein paar hundert Meter weiter verliert sich das bunte Treiben in tristen, grauen Wohnkasernen aus der Stalin-Zeit.

derStandard.at

In der Kotelnitscheski Perelouk duckt sich ein gesichtsloses, einstöckiges Haus unter den hoch aufragenden Hochhäusern weg. Jahrzehntelang ahnte keiner der Nachbarn, dass dieses Gebäude den Zugang zu einem 7000 Quadratmeter großen Tunnelsystem barg. Heute sind ein roter Stern und ein Schlagbalken unübersehbare Hinweisgeber für das, was der  Besitzer des Atombunkers, ein russisches Bauunternehmen, unter etwas schrillem History-Entertainment versteht.

derStandard.at

Eine Anmeldung für die Gruppenführungen ist erforderlich, wer Glück (und etwas Überredungskunst) hat, kann sich auch ohne Voranmeldung einer Touristengruppe anschließen. Der Bunker-Guide tritt auf Wunsch in Offiziersuniform auf. Sowjet-Nostalgie und kein Ende: Ein sorgfältig abgestempelter Ausweis samt gnädigem, fiktivem Passfoto ersetzt die Eintrittskarte.

derStandard.at

Nach einer Kurzunterweisung bittet Guide Paulina die Besuchergruppe, die an diesem Tag von blendend aufgelegten Italienern dominiert wird, ins Haus. Ein langer, schmaler Gang führt ins Innere. Dessen Wände haben die Maurer eine Zeit lang beschäftigt: Sie sind jeweils sechs Meter dick. Am Ende des Korridors öffnet sich eine vierzig Zentimeter starke, mit Beton ausgegossene Stahlschiebetür, schräg versetzt schließt eine weitere, ebenso große an. Jede von ihnen wiegt eineinhalb Tonnen.

derStandard.at

Dahinter weisen die ersten Stufen Richtung Moskauer Untergrund. Insgesamt 18 Stockwerke geht es nach unten. Nach dem Abstieg führt ein eisenarmierter Gang an den Beginn des ersten Tunnels. Vier Stollen wurden zwischen 1952 und 1956 vorgetrieben. Sie alle dienten dem Zweck, im Fall eines Atombombenschlags sowohl die Kommunikationskanäle als auch die militärische Infrastruktur des Landes aufrecht zu erhalten.

derStandard.at

Die erste Röhre, in der sich auch das Museum befindet, war das eigentliche Herzstück der Anlage. Hier arbeiteten die Mannschaften und Führungskräfte; sie sollten im Ernstfall den Kontakt zu den militärischen Außenposten aufrechterhalten. Vor allem aber wurde hier ein allfälliger Atomschlag vorbereitet.

derStandard.at

In den anderen drei Tunneln war die Infrastruktur wie Generatoren, Luftversorgung oder ein Lebensmitteldepot untergebracht. 2000 Mann sollten hier mindestens drei Monate völlig autark ihren Dienst versehen können. Die Grundbesatzung der unterirdischen Kleinstadt bestand aus etwa 500 Bediensteten, die zur Bewachung und Wartung abgestellt waren.

derStandard.at

Die Konstruktion selbst ähnelt jener der Moskauer Metro. Jeweils 1,5 Tonnen schwere Eisenelemente wurden zu einem Ring mit sechs Metern Durchmesser zusammengefügt. Je nach Bedarf wurden in den Tunneln eine Zwischendecke eingezogen. Die genauen Gesamtkosten für die Hightech-Katakomben sind nicht bekannt. Exorbitant waren sie auf alle Fälle: Die Investitionen für einen halben Meter Tunnel in dieser Tiefe entsprachen damals etwa den Baukosten für ein mehrstöckiges Wohnhaus.

Cold War Museum

Ende der Siebziger vergruben die Sowjets noch einmal eine ansehnliche Summe unter dem Taganskaja Platz. Grundwasserschäden mussten beseitigt, die technische Ausstattung erneuert werden. Die Renovierung dauerte bis zur Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991.

Cold War Museum

Das Verteidungsministerium parkte die die heikle Immobilie in den Neunzigern in einer Abteilung eines staatlichen Telekom-Unternehmens. Vor fünf Jahren gingen die einst sündteuren Löcher für bescheidene 65 Millionen Rubel (heute 1,6 Millionen Euro) an den neuen Besitzer. Schnäppchen war der Bunker für den Käufer keines: Der einstige Stolz der Sowjetunion war eine Ruine, die Anlagen vom eindringenden Grundwasser zerfressen, Geräte und Einrichtung geplündert.

derStandard.at

Mittlerweile ist das Bunkersystem aufwändig saniert, ein kleiner Kinosaal eingerichtet, in dem ein sehenswerter Kurzfilm über den Kalten Krieg gezeigt wird. Zudem haben die Betreiber allerlei antikes Equipment und unzählige Sowjet-Devotionalien zusammengetragen. Die Präsentation ist überaus exaltiert, nicht zuletzt, weil die Besucher die außergewöhnliche Möglichkeit bekommen, ein wenig Atomkrieg zu spielen.

derStandard.at

Alessandro, einer der Italiener, meldet sich prompt freiwillig um eine US-amerikanische Großstadt auszulöschen. Gemeinsam mit Paulina darf er das Prozedere für den Abschuss einer Nuklearrakete einleiten. An einem Kontrollpult mit bernsteinfarbenen Displays ist er, mit einem Käppchen zum Offizier geadelt, zugange. Gemeinsames Schlüsselumdrehen. Codes abrufen. Startphasen einleiten. Nochmals Schlüsseldrehen. Abschuss! Ganz wie bei James Bond eben.

derStandard.at

Ein aufploppender gelber Punkt am Display und etwas Krach aus den Lautsprechern künden von der virtuellen Atomisierung einer erklecklichen Fläche Lebensraum. Alessandro ist begeistert. Entertainment skurril.

derStandard.at

Im anschließenden Raum geht der Reality Check in Sachen Kalter Krieg weiter. Hier werden Ausrüstung, Waffen und Kommunikationsanlagen präsentiert. An einem mit allerlei Tinnef vollgeräumten Kommandeursschreibtisch dürfen sich Besucher in Uniform in die Brust werfen.

derStandard.at

Gleichfalls sehr beliebt: Kalaschnikow-Posing. Alles frei nach dem Motto, das die russischen Besitzer auf ihrer Homepage ausgeben: "Dieser Bunker ist ein Symbol für die Größe und Stärke unseres Mutterlandes. Die heroischen Taten der Erbauer erfüllen uns mit Stolz und Respekt", steht da zu lesen.

derStandard.at

Also dürfen mit Stolz und Respekt unzählige Gewehre und Pistolen abgegriffen werden. Zudem kann gezeigt werden, wie schnell man sich eine ABC-Montur zwängt. (Zeitvorgabe: 30 Sekunden)

derStandard.at

Der eher locker-verspielte Umgang mit dem Thema Atomkrieg und sowjetische Zeitgeschichte findet sich auch im weiteren Angebot des Betreibers. Ein Teil der ehemaligen Bunkeranlagen wurde in eine Karaoke-Bar verwandelt. Bei Bedarf gibt's auch einen Restaurantbetrieb.

Cold War Museum

Eine der Katakomben dient als Paintball-Anlage.

derStandard.at

Zudem greift die Moskauer Schickeria für diverse Festivitäten auf das Areal zurück. Hochzeit im Stalin-Bunker - äußerst stilvoll.

derStandard.at

Der ganze Kokolores ist indes nichts im Vergleich zu den Plänen, die der Betreiber unmittelbar nach dem Immobilienankauf hatte: Anfangs gedachte man 65 Meter unter der Erde eine Shopping-Mall inklusive Entertainmentbereich einzurichten.

derStandard.at

Abseits der eigenwilligen Interpretation von Zeitgeschichte ist die Erforschung des Tunnellabyrinths unter dem Taganskaja Platz ein außergewöhnliches Erlebnis. Zu erfahren ist ein gigantomanisches, gleichwohl sinnloses Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges – das sein Erschaffer übrigens nie betreten hat. Josef Stalin starb drei Jahre vor der Fertigstellung. (Stefan Schlögl, derStandard.at, 22.8.2011)

Info:

www.bunker42.com

Gruppenführungen nur nach Voranmeldung
Dauer: etwa 1,5 Stunden
Preis pro Person: ca. 1300 Rubel (33 Euro) als Gruppenteilnehmer.
Adresse: 5-i Kotelnitscheski Pereulok 11, Moskau, U-Bahn-Station Taganskaja

Cold War Museum