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Stimmt die Neurochemie nicht, kommt es zu Schizophrenie und psychotischen Erkrankungen.

Der Wahn schleicht sich hinterrücks an. Er tarnt sich, häufig als "Depression" oder "Pubertätskrise". Manchmal auch mit körperlichen Symptomen wie Herzstichen. Doch meist dauert das Versteckspiel nur wenige Wochen. Dann schlägt er zu: Die Abgrenzung zwischen dem Selbst und der Außenwelt schwindet, Gedanken werden laut, unbekannte Stimmen mischen sich in das Leben ein, Gefühle scheinen gesteuert, andere verfolgen, beobachten, belauschen. Die Rede ist von Schizophrenie, eine Erkrankung, die jeden zehnten Betroffenen in den Selbstmord treibt, und der immer noch das Stigma von hausgemachten Problemen oder mangelnder Belastbarkeit anhaftet.

"Dass oftmals die Persönlichkeit als Basis für Schizophrenie herhalten muss, gehört wohl zu den gravierendste Fehleinschätzungen", warnt Wolfgang Fleischhacker, Leiter der Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Med-Uni Innsbruck. Wie schon für Autismus oder Depressionen decken Wissenschafter zunehmend körperliche Fehlfunktionen auf. Bis zu 70 Prozent des Risikos an Schizophrenie zu erkranken, verorten Forscher in den Genen. Fast monatlich werden neue Genvarianten oder Risikofaktoren beschrieben. Derzeit ist die erbliche Veränderung eines Rezeptors, der Lernen und Wahrnehmung koordiniert, im Visier. Vor einem Jahr kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass ein Abwehrbotenstoff der Mutter zu Veränderungen im Babyhirn führen könnte.

Fleischhacker betrachtet solche Rückschlüsse skeptisch: "Jeder einzelne Risikofaktor birgt nur einen winzigen Bruchteil in sich. Erst wenn alle zusammenkommen, bricht die Krankheit aus; dazu gehören neben den Hirnveränderungen auch umweltbedingte Faktoren", sagt er. Tatsächlich beginnt der Kampf im Kopf, den immerhin 80.000 Österreicher wenigstens einmal im Leben ausfechten, häufig mit belastenden Einflüssen wie Schulschwierigkeiten, Drogen oder Liebeskummer. Fast immer geschieht dies in der Pubertät, in einer Phase, in der das Gehirn einen massiven Umbau erfährt und für das weitere Leben generalüberholt wird.

Neurochemie bestimmt

Diese Kombination aus erblicher Veranlagung, belastender Erfahrung und mentaler Verletzlichkeit scheint zu veranlassen, dass einige Schaltkreise der 100 bis 200 Milliarden Nervenzellen im Gehirn in Unordnung geraten. Gewöhnlich transportieren die Neuronen Informationen durch Seh-, Sprach-, Wahrnehmungs- sowie Bewertungs- und Gefühlszentren. Die Übergabe erfolgt mithilfe von Botenstoffen, die jeder Information eine Bedeutung geben: So entscheidet das Serotonin im Gefühlszentrum über Glück oder Tristesse, Glutamat reguliert die Erregbarkeit und Dopamin steuert im limbischen System Lernen und Motivation - ein hochkomplexes System, das empfindlich auf Abweichungen reagiert. Fehlt etwa Serotonin, entsteht Depression. "Nennen Sie es Seele oder Psyche: Was den Menschen ausmacht, ist das Ergebnis von zellulären, biochemischen und elektrischen Prozessen in den Neuronenschaltkreisen des Gehirns", beschrieb der Neurochirurg Volker Sturm aus Köln die Vorgänge einst.

Diese Aussage trifft für Schizophrenie-Patienten: "Denn bei ihnen gerät das ganze philharmonische Orchester der Neurochemie in Missklang", wie es der Wiener Leiter der Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Siegfried Kasper ausdrückt. Den größten Anteil trägt Dopamin. Im Motivationszentrum schießt es, vermutlich gesteuert durch Glutamat, über und verursacht die so typischen Wahnvorstellungen. Zugleich aber mangelt es in den Hirnarealen, wo Informationen interpretiert und emotional bewertet werden sowohl an Dopamin als auch an Serotonin. "Das aber ist sehr viel schlimmer als die auffälligen Psychosen", sagt Kasper. Sie lösen einen massiven Rückzug von Freunden und Familie, Konzentrations- und Kommunikationsverlust aus, durch die sich die Patienten "kaum noch erreichen lassen". Zumal durch den Serotoninmangel auch die Ausbildung neuer Nervenzellverbindungen nachlässt. Es beginnt ein biochemischer wie sozialer Teufelskreis, der, wenn er nicht gestoppt wird, die Menschen in Isolation treibt.

Das lässt sich aufhalten. Gerade die nicht mehr ganz so "neuen" Antipsychotika regulieren sowohl den Dopamin- als auch den Serotoninspiegel sensibel und vergleichsweise nebenwirkungsfrei. Vor allem, wenn die Schizophrenie rechtzeitig erkannt und medikamentös behandelt werde, könnten die meisten ein mehr oder weniger erfülltes Leben führen, so Fleischhacker.

Wissen um Schübe

Doch genau da liegt das Problem: Meist vergehen bis zu drei Jahre bis er Patienten zu Gesicht bekommt. Den erschöpfenden Anfällen folgen immer auch Phasen der Erholung. Doch die Schübe werden meist schlimmer, Wahnvorstellungen verfestigen sich und die Erkenntnis, krank zu sein, schwindet - und damit auch die Bereitschaft, sich behandeln zu lassen.

Die Experten drängen daher auf eine begleitende Psychotherapie. "Sie lehrt Betroffene mit ihrer Erkrankung umzugehen, schützt sie vor Isolation, aber vor allem lernen sie, Vorboten der möglichen Rückfälle zu erkennen", so Fleischhacker. Denn eine Psychose taucht keinesfalls aus dem Nichts aus. Sie kündigt sich an. Studien aus Deutschland zeigen eindrucksvoll, dass Rückfälle um mehr als 30 Prozent sinken, nehmen Patienten wie auch Angehörige eine solche Therapie in Anspruch. (Edda Grabar, DER STANDARD Printausgabe, 22.08.2011)