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Ein Sittenwächter bei der Arbeit: Als temporärer Machthaber zielt Angelo (Lars Eidinger) auf jenen, der seinen Moralvorstellungen nicht entspricht, den armen Claudio (Bernardo Arias Porras).

Foto: Kerstin Joensson/dapd

Mit seiner Inszenierung bei den Salzburger Festspielen zeigt er viel Sympathie für die guten Sitten. Ein zäher Abend, nicht ohne Gewinn.

Salzburg - Gemessen an den Gesetzen, die sich das Land des Herzogs Vincentio in Shakespeares Maß für Maß gegeben hat, muss man von einem echten Komödienstaat sprechen. Denn in der Stadt Wien - so will es das Original - zählt es zu den größten Vergehen, seine eigene Braut zu schwängern. Eine ziemlich widersinnige Rechtsprechung zum angeblichen Schutz der unverheirateten Frau.

Regisseur Thomas Ostermeier behandelt die moralischen Rahmenbedingungen mit großem Ernst und lässt der Ironie dieses Werkes in seiner Inszenierung bei den Salzburger Festspielen wenig Raum; es wird deshalb auch nicht sehr lustig. Am feurigsten agiert Stefan Stern als opportunistischer Lucio, dem statt der "Bitte" gern die "Titte" über die Lippen kommt. Das hat man von den vielen Beschränkungen!

Vorehelicher Geschlechtsverkehr ist den Puritanern dieses Stücks gar die Todesstrafe wert. Da macht der Herzog (Gert Voss) gerne mal Pause vom Rechtsprechen und Regieren; er übergibt seine Vollmachten vorübergehend an seinen Statthalter Angelo - und mischt sich seinerseits als Undercover-Mönch unter die Leute. Eine wundersame, engagierte Performance, die die Doppelbödigkeit dieses Charakters vollends zur Geltung bringt: einerseits die Maske des staatstragenden Politikers, der mit flatterndem Mantel in den Helikopter steigt, zugleich aber auch den bis in die Fingerspitzen von eitlen Wünschen geleiteten Durchschnittsmenschen.

Da das Volk seiner eigenen Triebe naturgemäß nicht Herr wird (anno 1604 unterstellt Shakespeare dies nur den Männern), gibt es für den neuen Saubermann (Lars Eidinger; "sein Blut ist Schmelzwasser") eine Menge zu tun. Er macht, was neue Amtsinhaber - frei nach Arnold Schwarzenegger - gerne tun: "to clean house". Mit ungerührter Miene kärchert er den Schimmel aus den Ritzen der goldverkachelten Bühne Jan Pappelbaums, bis die schwarze Brühe (der Sünde!) die Wände herabrinnt.

Thomas Ostermeier erzählt das Schauerstück über den Niedergang der Moral mit ernstem Tonfall und vielen langgezogenen Mienen am Bühnenrand des Landestheaters. Dieses gruselige Intrigenspiel, eine Koproduktion der Festspiele mit der Schaubühne Berlin, dekuvriert den Statthalter als moralisch völlig korrumpiert. Lars Eidinger mimt Angelo als aalglatten Neotyrannen, in dessen Gehirnwindungen es leise zischt, auch wenn er nicht viel tut und sagt. Aus der Decke hängt ein großer Luster, an dem Ostermeier die "böse" Fleischeslust wechselnd in Gestalt einer halben Sau und Angelos baumeln lässt. Und da wird klar, dass es der Regisseur mit der Kritik an den verkommenen Sitten ganz ernst meint, und er zu den zügellosen körperlichen Gelüsten auch den zügellosen Verzehr von Fleisch addiert.

Sünde mit Sünde vergelten

Diese moralischen Verschleißerscheinungen der Zivilisation halten sich mit den Witzen, die über sie gemacht werden, aber kaum die Waage. Dabei hätte sich Marius von Mayenburg mit der anstandslosen Sprache Shakespeares einigermaßen flockig beschäftigt. Im zähen, entlang von mittelalterlichen Ständchen (Musik: Nils Ostendorf) aufgefädelten Spiel, bleibt viel Pulver liegen. Vor allem Jenny König bleibt in der zentralen Rolle der Isabella eindimensional. Sie soll ihren von der Todesstrafe bedrohten Bruder Claudio (Bernardo Araias Porras) auslösen, weil er seine Braut geschwängert hat, indem sie - Achtung: mit Angelo ins Bett geht.

Soweit kommt es nicht. Auch deshalb weil der gewiefte Herzog anstelle von Claudios Kopf den der Sau überbringen lässt. Und auch deshalb nicht - soweit bleibt das Komödiengenre gewahrt -, weil den Beischlaf im Geheimen eine andere absolviert, nämlich Angelos ehemalige, von ihm zuunrecht verstoßene Braut, die hiermit ihre Ehe vollzogen hat.

Geheiratet wird ja dann en masse, und das vor allem unfreiwillig - es war die einzige absehbare Konsequenz dieser Problemlage: Angelo und Mariana, Claudio und seine schwangere Braut, Lucio und eine geschwängerte Prostituierte, und schließlich schnappt sich der Herzog die reine Isabella. So deprimierend war Maß für Maß schon lange nicht mehr. Es hat um den Preis der alten, von einer neuen Bourgeoisie vertretenen Werte, seine Aufmüpfigkeit eingebüßt. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD - Printausgabe, 19. August 2011)