Flagge der grünen Zukunft, ausgestellt auf net.flag.

Politik und Verwaltung verweisen heute gerne auf "Globalisierung", um zu erklären, dass Entscheidungen nicht mehr in ihren Händen liegen. Politische Entscheidungsträger sind dann gewissermaßen nur mehr fremdgesteuerte Elementarteilchen in verselbstständigten Netzwerkprozessen. Globalisierung gibt es mindestens seit dem 17. Jahrhundert, aber seit dem großen Sprung vom Schienen- und Straßennetz zum digitalen Transport mit Lichtgeschwindigkeit sind Netzwerke allgegenwärtig.

Diese weltweite Entmaterialisierung menschlicher Kommunikation ist mit neuartigen soziokulturellen und politischen Effekten verbunden. Obwohl die Technologien nicht zuletzt mit öffentlichen Mitteln entwickelt wurden, ist die Dividende für die Allgemeinheit, wie etwa ein direkterer Zugang zu Wissen und Bildung, weitgehend ausgeblieben.

Globale Vernetzung birgt nicht nur Chancen, sondern vor allem auch Risiken und erzeugt ein paradoxes Phänomen der Fragmentierung und Zentralisierung. Nicht nur Marktkonzentrationen und Kartelle, auch personalisierte Zugänge, neue Bezahlschranken sowie selbstreferenzielle Empfehlungssysteme werden hier wirksam. Dennoch sind die Entwicklungen den neuen Technologien nicht "natürlich" innewohnend, vielmehr eine gesellschaftliche Herausforderung für einen Regulierungsrahmen und Gesellschaftsvertrag, der den Ausgleich zwischen privaten und öffentlichen Interessen schafft.

Es fehlen Mechanismen zur Wahrung von Vielfalt in der demokratischen Meinungsbildung, zur Schaffung von Räumen des kulturellen Austauschs im Interesse der Aufrechterhaltung universeller Werte. Aus diesem Umstand wird ein politischer Handlungsbedarf ersichtlich. Aber anstatt die öffentliche Sphäre zu regulieren, wird immer mehr das Individuum überwacht und bevormundet, während der öffentliche Raum der Verwahrlosung oder privatem Profitstreben überantwortet wird.

Peinlichkeit im Netz

Währenddessen ist das Internet für immer mehr Menschen nur ein magisch leuchtender Bildschirm. Was sich dahinter verbirgt und die Lebensrealität beeinflusst, ist kaum jemandem bewusst. In sogenannten Social Networks wird Subjektivität als Businessmodell instrumentalisiert, und Teilnehmer geben schon bei der Anmeldung alle Rechte auf ein selbstbestimmtes Leben ihrer Daten auf.

Das führt schnell zu Infantilisierungseffekten. Nicht zuletzt deshalb hat Google-CEO Eric Schmidt sogar schon die Namensänderung im Pass vorgeschlagen, um der eigenen Peinlichkeit im Netz entfliehen zu können.

Die Dynamik von Netzwerken hat auch das Handwerk der politischen Einflussnahme geformt. Anstelle monolithischer Strukturen setzen sich flexiblere Netzwerkformen durch, die informellen und indirekten Einfluss ermöglichen. Im Gegensatz zu traditionellen Interessengruppen sind neue Einflussnetzwerke nicht formal konstituiert, sondern unsichtbare Allianzen, die, wie ein Schwarm von Satelliten, Netzwerksignale gegenüber Medien und Öffentlichkeit vervielfachen.

Ein Schattenparlament von Experten und Lobbyisten präsentiert sich einem Publikum, das über private Interessen in Verbindung mit diesen Meinungen und kalkulierten Darstellungen nicht informiert ist, als objektive Analysten. Diese Vorgänge schaffen zunehmend ein Informationsungleichgewicht zwischen dem öffentlichen Interesse und einzelnen Gruppen.

Suchmaschinen wie Google und gegliederte Netzwerke strukturieren den Zugang zur Information im Web. Es geht um die maschinelle Bewertung der Qualität und Relevanz eines Dokuments. Die immer weitergehende automatische Klassifizierung von Daten, deren Indexierung und Auswertung sind das Herz der neuen Kommunikationsumgebungen. Dahinter liegt nicht nur der Versuch, weltweit Informationen zu organisieren, sondern auch menschliche Beziehungen zu klassifizieren.

Soziometrische Programme quantifizieren alle Bereiche des Lebens, um Verhalten mathematisch zu modellieren und vorhersagen zu können. In der boomenden Welt des Big data mining werden algorithmische Methoden zur Bestimmung politischen Einflusses, zur Analyse sozialer Dispositionen oder ansteckender Trends verwendet. Digitale Transaktionen bieten riesige Mengen an privaten oder halb privaten Daten persönlicher Vorlieben, die geerntet werden, um Alltagserfahrungen anzupassen und zu verändern.

Im Gegensatz zu populär aufgebauschten Irrtümern erfordert "Wisdom of the crowds" zumindest weitreichende Meinungsvielfalt und eine Dezentralisierung lokaler und unabhängiger Wissensquellen, um die Vielfalt der Interpretation von Informationen zu gewährleisten. Nicht zuletzt bedarf es geeigneter Mittel, um individuelle Urteile in kollektive Entscheidungen zu verwandeln.

Es sind daher Maßnahmen erforderlich, um dem Einzelnen Selbstermächtigung in digitalen Netzen der Informationsgesellschaften zu ermöglichen. Dazu gilt es, auch den Austausch zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Bürgerinnen neu zu regeln, um eine demokratische Kultur zu gewährleisten. Nur Informationsfreiheit und Open-Data-Strategien können Regierungen zur notwendigen Transparenz und damit auch zur Glaubwürdigkeit verhelfen. Wenn neue Handlungsfelder für politische Partizipation eröffnet werden, können vor allem auch die politischen Entscheidungsträger davon lernen. (Konrad Becker, DER STANDARD, Printausgabe, 13./14./15.8.2011)