Glück, das mit dem Unglück aufs Engste zusammenhängt: Evelyn Schlag hat mit "Die große Freiheit des Ferenc Puskás" einen raffinierten, vielschichtigen Roman geschrieben.

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Ferenc Puskás, Ungarns bester Torschütze aller Zeiten, ist nicht nur Fußballfans ein Begriff: Der Sieg Ungarns im "Jahrhundertspiel" gegen England 1953 und das "Wunder von Bern" im Jahr darauf - Ungarn belegte nach dem legendären 2:3 gegen Deutschland den zweiten Platz in der Weltmeisterschaft - waren geschichtsträchtige Momente; auch wegen der Politisierung des Sports in der Zeit des Kalten Krieges.

Als Puskás dann nach dem Ungarnaufstand 1956 emigrierte und nach einer von Ungarn initiierten 18-monatigen Sperre durch den Weltfußballverband für Real Madrid spielte und danach als Trainer die Welt kennenlernte, spiegelte sich die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in seiner Biografie. Längst ist Puskás auch zu einer literarischen Figur geworden, bei Péter Esterházy etwa oder bei György Dalos.

Evelyn Schlags neuer Roman Die große Freiheit des Ferenc Puskás rückt ihn nur einmal in den Blick: Als das Emigrantenkind László Földesch in der Deutschstunde seinen Aufsatz über den Helden Ferenc Puskás vorlesen darf. Diese Schlüsselszene ist der glücklichste Moment, der von Lászlós Leben zwischen den Anpassungszwängen und Sprachschwierigkeiten des "Ungarnbuben" und der Desorientierung des alternden Mannes sichtbar wird.

Und in ihr bündeln sich individuelle und kollektive Freiheitssehnsüchte: die der Ungarn nach einem Ende der kommunistischen Diktatur, die der Familie Földesch nach einem selbstbestimmten Leben und die des jungen László, seine Flüchtlingsexistenz abschütteln zu können.

Vom Ungarnaufstand 1956 hat sogar der Durchschnittsösterreicher viele Bilder im Kopf; aber meist stammen sie aus Budapest. Schlags Roman fokussiert hingegen die Grenzstadt Mosonmagyaróvár, das die meisten nur von Zahnarztbesuchen kennen - ohne zu wissen, dass sich hinter dem für sie unaussprechlichen Namen jenes Ungarisch-Altenburg verbirgt, wo Nikolaus Lenau an jener Agrar-Akademie studiert hat, die in der Monarchie zum Mutterinstitut der heutigen Universität für Bodenkultur in Wien wurde.

István Földesch war am Aufstand in Mosonmagyaróvár beteiligt, wurde schwer verletzt und musste mit Frau und Kind fliehen. Doch in der Fremde dämmert er vor sich hin, und weil er sich schwertut mit Deutsch, bleibt sein Wissen wertlos. Sein wetterempfindliches Bein ist zu einer "Gedenkstätte" geworden, "das Heldentum war aufgezehrt" . Da er sich bei allen möglichen manuellen Arbeiten geschickt anstellt, bekommt er schließlich sogar eine fixe Anstellung - sein einziges Glück. Das allerdings mit seinem Unglück aufs Engste zusammenhängt: Denn Herr Weitmann, der Direktor des Molkereibetriebs auf Schloss Wickendorf, von dem er und seine Familie abhängig sind, hat ein Verhältnis mit seiner Frau.

"Er hat meine Mutter veruntreut" , wird László einmal sagen - lange nachdem sie sich das Leben genommen hat. Es sind vor allem diese knappen und präzisen Sätze, die Beziehungen, Freiheitsträume und Glückshoffnungen fokussieren und auch den neuen Roman von Evelyn Schlag zu einem literarischen Großereignis machen.

Etwa der Satz über Etelkas rote Stöckelschuhe: "Ein farbiger Blickpunkt, ein Auftrag, in der Fremde glücklich zu sein, die Hoffnung nicht zu verlieren." Wie banal wäre hier der erwartbare Ausdruck "Blickfang" - doch Etelka will ja nicht jemandes Blicke auf diese Schuhe ziehen, sondern braucht selbst einen farbigen Punkt, auf den sich ihr Blick konzentrieren kann. Etelka, die Starke, die die Familie zusammenhält, blendend Deutsch spricht und dolmetschen kann - und dann eben einmal schwach wird. Und dabei Weitmann in die Hände fällt, jenem Weiberer, der sich später das Leben nimmt. Aber nicht wegen Etelka, auch nicht wegen einer anderen Frau, sondern wegen veruntreutem Geld.

Bis man diese Zusammenhänge durchblickt, muss man allerdings das ganze Buch lesen. Denn Evelyn Schlag hat wohl noch nie einen so raffiniert gebauten Roman geschrieben. Alles beginnt harmlos wie die Szene eines Unterhaltungsfilms: Auf einer heruntergekommenen Tankstelle begegnen einander zwei Männer - Rechtsanwalt Valetin Görz und László Földesch. Dem folgen komplex aufeinander bezogene Szenen aus Vergangenheit und Gegenwart - ein Puzzlespiel, aus dem erst am Ende deutlich wird, wie alles zusammenhängt und was die beiden Männer miteinander verbindet.

Die Raffinesse dieses erzählerischen Spiels baut eine starke Spannung auf und hat an keiner Stelle etwas Artifizielles und irritiert nie durch eine Überkonstruiertheit, sondern korrespondiert aufs Engste mit dem Thema, mit dem sich langsam und mühsam Voranarbeiten in der eigenen Herkunftsgeschichte.

Dass man beim Lesen dran bleibt, auch wenn sich die Zusammenhänge (noch) gar nicht erschließen, liegt, um es nochmals zu sagen, an Evelyn Schlags Sprache, die unvergleichliche Mikroszenen schafft. Selbst die banalsten Kaffeehausgespräche haben dadurch etwas Besonderes. Und gerade so werden vor der genau recherchierten Hintergrundfolie der Geschichte die individuellen Leben einmalig und unverwechselbar - auf eine Weise, wie das nur Evelyn Schlag erzählen kann. (Cornelius Hell, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 12./14./15. August 2011)