Hier gibt's eine Ansichtssache zum Text.

Foto: Michael Eisenriegler

Die Straße von der Grenze nach Lemberg gibt uns einen furchterregenden Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Es ist nach drei Uhr morgens, es nieselt, und die Scheinwerfer des Gobi Bären erleuchten die asphaltierte Kraterlandschaft nur spärlich. Weit und breit kein offenes Motel in Sicht, wir beschließen, bis Lemberg durchzufahren. Im Morgengrauen finden wir endlich ein nettes Hotel in der Nähe des alten Friedhofs im Zentrum der Stadt, ausgestattet im feinsten Versace-Barock.

Lemberg selbst übertrifft unsere Erwartungen. Die Stadt ist noch immer der östlichste Außenposten der längst verblichenen Monarchie, und man benötigt nicht viel Phantasie, um sich die löchrigen Straßen mit ihren alten Bewohnern vorzustellen: Galante Offiziere, jüdische Händler, Pferdedroschken aus allen Teilen Galiziens. Lediglich der Zustand der Hausfassaden und Kopfsteinpflaster war damals vermutlich besser. Dazwischen liegen aber auch hundert Jahre tragischer Geschichte und die Auslöschung der überwiegend jüdischen Bevölkerung, auch diese Ereignisse sind in Lemberg an jeder Ecke präsent.

Tags darauf geht es über gut ausgebaute und fast leere Autobahnen weiter nach Kiew. Kilometer um Kilometer an Plattenbauten säumen die schnurgerade Stadteinfahrt. Das Zentrum ist modern, chic und immer knapp am Verkehrsinfarkt, die Altstadt ruhig und gemütlich. Der berühmte Andreassteig, vormals die Gasse der Bohemiens und Künstler, erinnert uns an den Spittelberg, an den Montmartre und an das alte Travnicek-Zitat "Alle Städte sind gleich, nur Venedig ist ein bisserl anders". Wie auch immer, wir wohnen in einem gemütlichen Appartement-Hotel im Gemeindebau und würden die Stadt gerne noch länger erforschen, aber die Zeit drängt. Marion fliegt von Kiew nach Hause und das restliche Team OTSCHIR fährt weiter nach Südosten.

Wir wollen eigentlich über die Autobahn weiterfahren, erwischen aber die falsche Stadtausfahrt und fahren schließlich hunderte Kilometer am Dnjepr entlang. Der Fluss vermittelt stellenweise den Eindruck eines Meeres, es geht über Villenviertel und Jachthäfen, vorbei an bis zum Horizont reichenden Sonnenblumenfeldern und durch verfallende Industriegebiete bis nach Dnepropetrovsk, das uns buchstäblich den Atem raubt. Eine gelbliche Schmutzglocke hängt über der Stadt, Linz in den 70ern bei Inversionswetterlage. Wir fahren durch und beschließen, uns am Weg zur Grenze ein Motel zu suchen.

Das Etablissement, das schließlich versteckt am Weg liegt, entpuppt sich als ehemaliges Erholungsheim für Parteifunktionäre, zumindest wirkt es so auf uns. 70er Jahre Sowjet-Chic, eine Suite mit 60 Quadratmeter und ohne Zimmernummer, im Aufenthaltsraum ein Billardtisch, der gut doppelt so groß ist wie der in einem Wiener Café. Wir haben leider keine Zeit, das Ambiente zu genießen und fahren frühmorgens weiter zur Grenze.

Auf der ukrainischen Seite wundert man sich, dass wir nichts zahlen mussten. Abgesehen davon geht dort alles seinen bürokratischen Gang, die Büros sind durchnummeriert, Büro 1 schickt uns zu 3, 5, und 9. 5 und 9 geben uns brav ihren Stempel, 3 fühlt sich nicht für uns zuständig, wieder zurück zu 1, nochmals zu 3, wieder kein Stempel, man bedeutet uns, wir sollen weiterfahren. Der Wachtposten fragt uns nach dem Stempel von 3, ein kurzes Telefonat, wir sind durch.

Die Russen sind andere Kaliber. Nach der Passkontrolle werden wir auf einen Zollparkplatz gebeten, im Zollgebäude teilt man uns nach einigen Berechnungen mit, dass wir eine Kaution von € 31.600,- zu erlegen hätten (rückzahlbar auf unser Konto innerhalb eines halben Jahres), weil unser Auto ein deutsches Ausfuhrkennzeichen hat. Ersatzweise könne auch ein sogenannter "Broker" für uns haften, diese Dienstleistung würde dann ca. € 4.000,- kosten. Wir zücken die Empfehlungsschreiben der russischen und der mongolischen Botschaft in Wien, man weiß nicht was man mit uns tun soll, es ist Donnerstagabend, der Chef ist nicht mehr da, die Zöllner haben Schichtwechsel, man bedeutet uns, wir sollen schlafen gehen, der Chef ist ab 8.30 Uhr erreichbar.

Nächster Tag, 8.30. Pünktlich tauchen wir im Zollhaus auf, es findet - ohne uns - ein großer Palaver beim Chef statt, nach einer Stunde folgen vier Stunden hektisches Formularschreiben und Stempeln, danach wieder eine Besprechung beim Chef, dann ist es zwei Uhr nachmittags, und das Ergebnis ist dasselbe wie am Vortag, mit einer zusätzlichen Alternative: Wir könnten auch mit einer Militäreskorte durch Russland fahren, die kostet uns ebenfalls € 4.000,- und hätte - genauso wie die Zollkaution - die Aufgabe zu verhindern, dass wir unser Auto illegal in Russland verkaufen. Wir versuchen nochmals mit Empfehlungsschreiben, Flugtickets und allen anderen Unterlagen zu belegen, dass wir in humanitärer Mission unterwegs sind, dass wir einen Krankenwagen im Rahmen einer Charity-Rally nach Ulan Bator bringen, dass wir Sponsoren haben, die das auch so sehen, und so weiter. Aussichtslos. Auch mehrfache Telefonate mit dem russischen Generalkonsul in Wien können die Beamten nicht umstimmen. Letzter Stand: Der große Chef in Rostov am Don muss entscheiden.

Mittlerweile ist es Nachmittag und wir beschließen, die Botschaft in Moskau zu involvieren. Die ist zwar sehr hilfreich, aber Freitagnachmittag ist in russischen Büros niemand mehr zu erreichen und damit ist unser Schicksal wohl besiegelt: Wir müssen vermutlich bis Montag auf dem Zollparkplatz bleiben.

Wir fühlen uns wie Gefangene. Unser Aktionsradius beschränkt sich auf die 50 Meter zwischen Auto und Zollgebäude, nur einmal am Tag dürfen wir mit Sondererlaubnis zur Tankstelle außerhalb des Grenzübergangs gehen um zu essen und unsere Vorräte aufzustocken. Freigang, sozusagen.

Der Samstag und der Sonntag verlaufen ansonsten weitgehend ereignislos. Ein paar Fernfahrer interessieren sich für uns und unser kurioses Auto, ein freundlicher Ukrainer, der als "polnischer" Gastarbeiter in England gelebt hat, freut sich, mit uns Englisch sprechen zu können und borgt uns sein Notebook mit Internetzugang. Immer wieder besucht uns auch ein tschetschenischer Vorarbeiter der benachbarten Baustelle, der etwas Deutsch spricht und Mitleid mit uns hat. Die Lastzüge parken ein und wieder aus, die einreisenden Autos werden abgefertigt und mehr oder minder schikaniert - und wir sitzen auf unseren Campingsesseln und warten und warten.

Am Montag beginnt sich dann das Blatt zu wenden. Durch die engagierte Unterstützung sowohl der österreichischen Botschaft in Moskau als auch der russischen Botschaft in Wien scheint der "Große Chef" in Rostov langsam mürbe zu werden. Ausgerechnet jener Zollbeamte, der am Donnerstagabend außerordentlich froh war, mit unserem Fall nichts mehr zu tun zu haben, hat es nun sehr eilig, die Order von "oben" umzusetzen: Wir können weiterfahren. Nach vier Nächten und 99 Stunden auf einem russischen Zollparkplatz geht die Reise weiter nach Osten.