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Bedrohliche Schieflage: In der Türkei wird weit mehr importiert als exportiert, die Kreditkartenverschuldung steigt trotz Aufrufen zur Mäßigung.

Foto: AP/Timur Emek

Istanbul/Sofia - Recht viele Freunde hat sich die türkische Zentralbank mit ihrer unorthodoxen Finanzpolitik in den vergangenen Monaten nicht gemacht. Die Entscheidung der Banker bei einer Sondersitzung am Donnerstag, den Leitzins auch noch zu senken, statt ihn - wie vielfach gefordert - heraufzusetzen, hat Marktbeobachter für einen Moment sprachlos gemacht. Die türkische Lira sackte auf ein Zweijahrestief gegenüber Euro und Dollar ab.

Die am schnellsten wachsende Wirtschaft der OECD-Länder steht vor dem doppelten Problem der Überhitzung und der Überschuldung der privaten Haushalte. Zentralbankchef Erdem Basci nannte nun ein drittes Problem, mit dem er die überraschende Zinssenkung um 0,5 Prozentpunkte rechtfertigte: Die Schuldenkrise in der EU, die nicht auf die Türkei übergreifen darf.

Seit vergangenen Dezember verfolgt die Zentralbank eine ungewöhnliche Politik, bei der der Leitzinssatz auf einem für türkische Verhältnisse niedrigen Niveau gehalten wird - nach der Senkung von Donnerstag sind es 5,75 Prozent -, zugleich aber den Banken höhere Mindestreserveanforderungen auferlegt wurden. Analysten innerhalb wie außerhalb des Landes kritisierten die neue Zinssenkung als unlogisch und als Schritt, der die Glaubwürdigkeit der Zentralbank untergrabe. Bestenfalls gebe die Bank damit die Botschaft, dass sie ungeachtet der Überhitzung der Wirtschaft Wachstum vor Preisstabilität setze und so die Türkei vor den Auswirkungen der Finanzinstabilität in der EU abschirmen will.

Elf Prozent Wachstum meldete Turkstat, die nationale Statistikbehörde für das erste Quartal dieses Jahres. Mit der Zahl gehen die Politiker der konservativ-muslimischen Regierung stolz spazieren. Doch hinter der Wachstumskulisse sieht es mittlerweile weniger beeindruckend aus: Ihr Leistungsbilanzdefizit bekommt die Türkei nicht mehr in den Griff, die Importe wachsen weiter viel schneller als die Exporte. Ihre Inflationserwartungen muss die Zentralbank ständig nach oben korrigieren. Die türkische Lira ist im letzten halben Jahr kontinuierlich abgesackt, was den Kreislauf von höheren Importpreisen, Bilanzdefizit und Inflation nur schneller werden lässt. Im Juli stiegen die Verbraucherpreise in Istanbul um knapp 14 Prozent.

Ein Paar Schuhe auf Raten

"Seid vorsichtig", warnte jetzt erstmals sogar ein führender Politiker der Regierungspartei, AKP-Vizechef Bülent Gedikli, seine Landsleute: "Haltet fest, was ihr habt. Gebt nicht zu viel aus." Doch die türkischen Verbraucher sind scheinbar nicht zu bremsen. Konsumkredite und Kreditkartenschulden nahmen im Juli noch einmal um ein Drittel zu im Vergleich zum Vorjahresmonat. Und praktisch alles ist in der Türkei auf Raten käuflich: Autos, Schuhe, eine Bohrmaschine im Heimwerkermarkt für umgerechnet 40 Euro.

"Die Türken leben auf Pump", sagt Mutlu Sahin, Geschäftsführer von Austrotherm in Istanbul. Für das Gesamtjahr erwarten Ökonomen ein Wachstum unterhalb der 8,9 Prozent von 2010, die Annahmen schwanken zwischen sechs und 8,7 Prozent.

Einen Chefvolkswirt aber gibt es, der die Politik der türkischen Zentralbank in dieser Situation lobt: Die Zentralbank habe von Anfang an gesagt, dass ihre Politik sechs bis neun Monate Zeit brauche, um zu fassen, meint Cevdet Akcay, Chefökonom bei YapiKredi in einer Stellungnahme für den Standard: "Dieser Zeitpunkt ist jetzt ungefähr erreicht. Neue Daten zeigen, dass es nun tatsächlich zu einer Abkühlung kommt. Die Kreditausweitung verlangsamt sich drastisch, und die Zentralbank könnte am Ende also doch recht gehabt haben." YapiKredi ist die erste Privatbank in der Türkei und Teil der UniCredit-Gruppe. Sie ist führend im Kreditkartengeschäft. (Markus Bernath, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 6./7.8.2011)