Eric Frey hat über Anders Breivik geschrieben: "Dieser Rechtsextremist ist kein Antisemit." Wie aber sonst soll man jemanden nennen, der von einer "antieuropäischen Holocaust-Religion" faselt, die überwunden werden müsse, und den USA attestiert, sie hätten angesichts von "über sechs Millionen Juden" ein "beachtliches jüdisches Problem" ? Und was soll die angemessene Bezeichnung für jemanden sein, der alles Unglück dieser Welt von "Kulturmarxisten" verursacht sieht, die sich von der Frankfurter Schule, also der Kritischen Theorie der vor dem Nationalsozialismus in die USA geflohenen Gesellschaftskritiker Max Horkheimer, Herbert Marcuse und insbesondere Theodor W. Adorno hätten inspirieren lassen?

Es ist keine allzu neue Erkenntnis, dass der Hass auf die Kritische Theorie ganz so wie jener auf die Psychoanalyse Ausdruck eines Antisemitismus ist, der sich jede Form individueller und gesellschaftskritischer Selbstreflexion panisch um sich schlagend vom Leib halten muss.

In Deutschland verbreitete die NPD in ihrer Monatszeitschrift schon vor Jahren, dass es sich bei der Kritischen Theorie, die Breivik gleich zu Beginn seines "Manifests" attackiert, um einen "Giftfraß" handelt, "der die inneren Organe und das Gehirn des deutschen Volkskörpers angreifen sollte." Die "Studien zum autoritären Charakter" von Adorno und Horkheimer sieht Breivik als eine Art Handbuch zur Zerstörung des abendländischen Erbes, der Koautor firmiert bei den deutschen Nazis im Sinne Breiviks als "geistiger Giftpilz der Gemeinschaftszersetzung" .

Abendland gegen Westen

Dass auch Antisemiten sich beizeiten Israel an den Hals schmeißen, ist keineswegs neu (wobei Breivik auch hier fein säuberlich zwischen jenen jüdischen Israelis unterscheidet, die ihm als Bündnispartner gelten und jener wohl überwiegenden Mehrheit, die allein schon aufgrund ihres "Multikulturalismus" letztlich aus der Welt geschafft werden müssen). Solche Leute solidarisieren sich mit Israel in aller Regel jedoch nur als Bündnispartner im Abwehrkampf, den das "Abendland" (ein Begriff, der auch von den heimischen Kulturkämpfern gegen jenen des "Westens" in Anschlag gebracht wird) gegen die antisemitische Konkurrenz des Islam zu führen habe.

Auffällig ist auch, dass der abgrundtiefe Hass des Attentäters auf emanzipierte Frauen, der neben der Kampfansage an Moslems zu den wenigen Dingen gehört, die in seinem wirren Manifest einigermaßen konsequent durchgehalten werden, in der Berichterstattung kaum eine Rolle spielt. Würde man ihm mehr Beachtung schenken, wäre wohl die Gefahr zu groß, auf die doch offensichtlichen Parallelen zwischen Breiviks Weltsicht und jener keineswegs nur des jihadistischen, sondern auch des orthodox-konservativen Mainstream-Islam zu stoßen. Breiviks Hass auf Muslime ist offenbar Ausdruck eines unbändigen Neids auf eine Gemeinschaft, in der repressive Familienstrukturen noch etwas zählen und Frauen wenig zu melden haben.

Breivik ist ein Antisemit im Zeitalter der Konkurrenz zwischen abendländischem Vernichtungswahn und islamischen Jihadismus. Doch davon muss in der augenblicklichen Debatte schon deswegen zwanghaft abstrahiert werden, um sich ja nicht die offenbar ungemein attraktive Gelegenheit entgehen zu lassen, kryptonazistische Muslimhasser mit liberalen und linken Islamkritikern in einen Topf zu schmeißen. (Stephan Grigat/DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.8.2011)