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Blockaden lösen

Foto: APA/Jens Meyer

Kommt man ins Behandlungszimmer von Sven Seewald, Allgemeinmediziner an der Bregenzer Kornmarktstraße, fallen drei Dinge auf: die sienarote Wand hinter dem Schreibtisch, die Turnmatte daneben und das lebensgroße Plastikskelett. Letzteres wirkt zwar nicht so fröhlich wie der junge Mediziner, tut aber gute Dienste, wenn es darum geht, zu erklären, wo es am Stützapparat klemmt.

Seewald hat sich auf die Osteopathie spezialisiert, jene Form der Komplementärmedizin, die Bewegungsblockaden aufspürt und löst. Osteopathen arbeiten dabei nicht mit technischem Gerät oder Rezeptblock, sondern mit ihrn Händen. "Der Osteopath hört, sieht, nimmt über die Hände wahr", erklärt der Arzt.

Drei Konzepte stehen ihm zur Verfügung: die strukturelle Osteopathie, die Störungen von Wirbeln und Gelenken, Verspannungen von Muskeln und Sehnen behebt. Die viszerale Osteopathie, mit der innere Organe durch die Mobilisierung verklebter oder vernarbter Gewebe behandelt werden, und schließlich die kraniosakrale Osteopathie. Dieser Technik haftet etwas Geheimnisvolles an, arbeitet sie doch mit einem "primären Atemmechanismus", wie die rhythmischen Bewegungen der Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) und Schädelknochen genannt werden. Dass es neben Kreislauf und Atmung einen weiteren bestimmenden Rhythmus im menschlichen Organismus gibt, will die klassische Medizin nicht wahrhaben.

Skepsis kommt erst recht auf, wenn Osteopathen die Liquorbewegung als "Lebenskraft" bezeichnen. Die Kraft zeigt sich durch rhythmische Bewegungen der Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit in bestimmten Frequenzen zwischen Kopf (Cranium) und Kreuzbein (Sacrum). Krankheiten, Unfälle, physische und psychische Verletzungen können diesen Fluss stören, sagt die Osteopathie und spürt die Blockaden auf. Das geht bei Seewald so: Während der Arzt die "kraniosakrale Achse" genau studiert, steht die Patientin, muss mehrmals hintereinander einen Punkt an der Wand fixieren, die Augen schließen, wieder öffnen. "Listening" oder "Ecoute-Test" nennt sich die erste Erkundung der Verbindung Kopf/Kreuzbein. Gehört wird mit den Händen. "Ich schaue mir Frequenz, Amplitude, Qualität und Symmetrie an", erklärt Seewald. Geschaut wird ebenfalls mit den Händen. Den Großteil der Behandlung verbringt man in Rückenlage. Der Osteopath wechselt mehrmals vom Kopf zum Kreuzbein und wieder zurück. Legt die Hände nicht auf, sondern unter Kopf oder Rücken. Die Finger sind dabei seine Sensoren. Linksseitig spürt er eine Blockade im Bereich des Iliosakralgelenks. Schließlich macht er den Hüftbeuger als Missetäter aus. Der Muskel, der das Gleitlager für die linke Niere und den absteigenden Dickdarm bildet, sei verspannt.

Messgerät Fingerkuppe

Wie er nun diesen sagenhaften Energiefluss spüre, will die skeptische Patientin wissen. Die sehr subtile Bewegung zu beschreiben falle schwer, sagt der Arzt. Wenn er aber erklärt, wie sein wichtigstes Werkzeug, die Fingerkuppen, funktioniert, verfliegt die Skepsis: "Auf einem Areal von einem Quadratzentimeter befinden sich 100 Druckrezeptoren, die mehrere 10.000 Nervenzellen aktivieren. Die Fingerbeere kann Eindrücktiefen von einem Hundertstelmillimeter wahrnehmen und zwei gleichzeitig gedrückte Punkte in einem Abstand von weniger als fünf Millimeter als zwei getrennte Punkte unterscheiden." Er sei also weder Guru noch Heiler, verstehe sich als Mittel zum Zweck: "Ich stelle Weichen, indem ich Selbstregulationsmechanismen auslöse und sie so lenke, dass sie die bestmögliche Arbeit erbringen."

Während der einstündigen Behandlung ist der Arzt vollkommen konzentriert, gibt nur wenige verbale Anleitungen. Das ist der ruhebedürftigen Patientin recht - sie spürt, wie der Kopf immer tiefer sinkt (was er in Wirklichkeit nicht tut), sich der geplagte Rücken entspannt. Der Hüftbeuger hat dank mobilisierender osteopathischer Techniken losgelassen. Abschließende Kontrolle des kraniosakralen Systems im Liegen, im Sitzen, im Stehen: Die Blockade ist gelöst, die Symmetrie wiederhergestellt.

Für die Existenz eines Rhythmus in der Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit, der auf funktionelle Störungen hinweisen kann, fehlen Kritikern die Beweise. "In der evidenzbasierten Medizin wird sehr viel Wert auf Studien gelegt und leider zu wenig auf die Erfahrung des Arztes", sagt Seewald. Er wendet die Kraniosakral-Technik erfolgreich bei Babys und Kindern an, begleitet damit kieferorthopädische Einsätze, sie ist auch Teil vorbeugender Checks, die der Osteopath im Vierteljahresabstand empfiehlt. Den Körper ab und zu für eine Stunde beim Osteopathen abzuliefern sei aber zu wenig, sagt Sven Seewald, denn Beweglichkeit erhalte man sich nur durch Bewegung. (Jutta Berger, DER STANDARD Printausgabe, 08.08.2011)