Die EU hat derzeit viele wirtschaftliche Sorgen, ist aber vor allem eine Wertegemeinschaft. Ihre Gründungsidee ist die Überwindung der extremistischen Ideologien, rassistischen und diktatorischen Regime, die dem Kontinent im 20. Jahrhundert so viel Unglück gebracht haben. "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet" (Vertrag von Lissabon).

Was aber tun, wenn ein Mitgliedsstaat diese Werte nicht nur mit Füßen tritt, aushöhlt und - in der Absichtserklärung seines nahezu unumschränkt herrschenden Regierungschefs - sie ausdrücklich als obsolet erklärt und durch ein neues, nichteuropäisches Wertesystem ersetzen will?

Das ist in Ungarn unter Premier Viktor Orbán in eklatanter Weise der Fall. Orbáns Ungarn marschiert im Eiltempo auf eine autoritäre Scheindemokratie mit ultranationalistischen Zügen zu. In Kurzform: Orbán will ein Putin-System wie in Russland oder, etwas abgewandelt, wie in China.

Paul Lendvai hat es genau nachgezeichnet: Orbán hat seit seinem Zweidrittelsieg bei den Wahlen konsequent die Opposition, die kritischen Medien, Künstler und Intellektuellen abgewürgt; er hat die Institutionen des Staates mit einem kalten Putsch gleichgeschaltet; und er duldet faschistische und antisemitische Gruppierungen. Der jüngste Streich ist eine Anklage gegen die drei letzten Ministerpräsidenten, wenn nötig auch durch rückwirkende Gesetzesänderungen.

Die kruden Methoden und die blanke Gewalt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kann man in Europa nicht wiederholen, das weiß auch Viktor Orbán. Er will stattdessen einen legalen Putsch, eine gesteuerte Demokratie, in der die politischen Gegner nicht umgebracht, aber mundtot gemacht und notfalls unter Vorwänden ins Gefängnis geworfen werden.

Entscheidend ist aber die ausdrückliche Abwendung Orbáns von den westlichen Werten: "Die Welt, in deren Werterahmen wir unsere Leben gelebt haben, verliert an Bedeutung", sagte er laut Süddeutscher bei einem Vortrag, den er in Tusnádfürdö hielt - in einem Teil Rumäniens, der früher ungarisch war. Damit ist auch die gefährliche ultranationalistische Komponente in Orbáns Denken offenkundig.

Ungarn hat keine Rohstoffe wie Russland und keine Industrie wie China. Orbáns Versuch, in Ungarn ein russisch-chinesisches Modell zu kopieren, muss daher scheitern. Will die EU warten, bis Orbán sie dafür zum Sündenbock macht? Es hilft nichts - der Kurs des Regimes Orbán ist mit der Europäischen Union unvereinbar. Diese Realität muss zunächst einmal akzeptiert werden. Dann muss man eine Strategie ausarbeiten. Ignorieren geht nicht mehr. (DER STANDARD Printausgabe, 3.8.2011)