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"Ein kräfiger Mann" (Andreas Döhler) gedenkt seine schlafende Bettgenossin (Kathleen Morgeneyer) in etwa zu "küssen".

Foto: Kerstin Joensson/dapd

Uraufführung war bei den Salzburger Festspielen.

Salzburg - In einer Dorfkneipe irgendwo auf dieser Welt, in der eine rotlockige Kellnerin (Kathleen Morgeneyer) ihren Dienst versieht, geschieht es: Ein hagerer Mann (Ulrich Matthes) wird von einem kräftigen Mann (Andreas Döhler) tödlich in den Rippen getroffen. Ein Tod, den eine Hellseherin (Almut Zilcher) die ganze Zeit vorausgesehen hat.

Dieser gesetzlose, archaische Moment aus Roland Schimmelpfennigs Stück Die vier Himmelsrichtungen meint mehr als eine Wirtshausprügelei; er verweist auf eine Gesellschaft, deren Überlebensspielräume klein geworden sind. Dafür braucht man das Wort "Krise" gar nicht im Mund führen. Welche Möglichkeiten hat man heute als Kellnerin, welche als Lkw-Fahrer?

Die aus Norden, Osten, Süden, Westen zusammenführenden Lebenspfade von vier Menschen des globalen Dorfes zeigen, wie Existenzen zusammenhängen und wie sie aneinander (höchstwahrscheinlich) Schaden nehmen: Es ist ein pessimistisches Stück, das Roland Schimmelpfennig in einer Koproduktion der Salzburger Festspiele und des Deutschen Theaters Berlin in Eigenregie jetzt uraufgeführt hat - mit grandiosen Schauspielern.

Zwei ungleiche Männer eifern um dieselbe Frau (die mit der roten Mähne); der Stärkere gewinnt. So weissagt es auch die Evolutionstheorie. Seine clowneske Art, die man an den allzu hoch gezogenen Hosenbeinen und einer frechen Mimik erkennen kann (Döhler), verbirgt seine Verwegenheit.

Der Dünnere blickt still aus einem weiß geschminkten Gesicht (Matthes) und ist Straßenkünstler geworden, mit einer Jacke, bedruckt mit großen blauen Sternen. Was der eine einst nach einem Unfall im Straßengraben liegen ließ - eine Ladung bunter Modellierluftballons -, damit hat sich der andere ein neues Leben aufgebaut. In diesem triumphalen Bild "freiberuflichen" Überlebens ("Man muss versuchen, aus nichts etwas zu machen, das man verkaufen kann") liegt die kapitalistische Chuzpe begraben: Denn die neue Ware, Ballon-Tierfiguren, besteht ja nur aus Luft!

Die vier Himmelsrichtungen beobachtet unter Zuhilfenahme auch komischer Künste (Akrobatik, billige Zaubertricks etc.) eine global vazierende Gesellschaft, die es dorthin zieht, wo es sich hoffentlich zu leben lohnt. Tut es aber nicht, und wenn doch, dann lauert der Tod. Denn wahrscheinlich spazieren die vier Menschen auf dem im Landestheater aufgeschütteten Erdreich (Bühne: Johannes Schütz) bereits auf ihren eigenen Gräbern. Anzeichen dafür gibt es genug.

Und Roland Schimmelpfennig montiert sie so, wie es ein Dramatiker der postpostmodernen Generation nur tun kann: Die Figuren sind nicht nur sie selbst, sie sind auch die Kommentare auf diese Figuren, ihre Dialoge führen sie vorzugsweise mit sich selbst. Dramatische Momente werden nicht ausagiert, sondern zitiert oder nacherzählt. Und dennoch erzeugt das alles zusammen eine Spannung und Unmittelbarkeit, also Dramatik, die klassische Rollenspiele heute sonst kaum mehr glaubwürdig erzielen können.

Auch die Einheit der Zeit: adieu - und das ist klug, denn das Vor- und Zurückgreifen, die Wiederholungen ermöglichen wie schon im Vorgängerstück Peggy Pickit unterschiedliche Perspektivierungen und Rhythmik.

Die Erzählung, in der weiters ein Schnapsladenbesitzer zu Tode kommt, ein Schlachthofdirektor vor Angst stirbt und in der die Kellnerin mit dem Medusenhaupt über Kopfschmerzen klagt (sie kam aus dem Westen mit dem Wind), steckt auch viel mythologisches und parabelhaftes Verweismaterial, wie es dem Theater nur lieb sein kann.

Nur ein Schwein, so sagt etwa der Schlachthofdirektor, könne - wie auch der Mensch - aus purer Angst sterben. Er tut es. Und der Lockenschopf-Kellnerin wird das Medusenhaupt zum Verhängnis. Ihre Kopfschmerzen wurden stärker, das "Ding" in ihrem Kopf könne man nicht mehr operieren, so der Arzt. Nun denn also Kopf ab. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD - Printausgabe, 1. August 2011)