Anarchy in the Internet: Hinter jeder Ecke Stachelköpfe, Nadelträger und Cyber-Punks ...

Collage: STANDARD

Walter Gröbchen, geb. 1962, ist Verleger und Journalist in Wien. Mit Partnern betreibt er die Musik- und Kommunikationsagentur "monkey". Er war lange Jahre Redakteur und Moderator bei Ö3 (Musicbox) und schrieb für zahlreiche deutschsprachige Zeitungen. Außerdem ist er am Radiosender Lounge FM beteiligt und fungiert dort als "Head of Music".

Foto: privat

"There must be some way out of here
Said the joker to the thief
There's too much confusion I can't get no relief ... "
(Bob Dylan, "All Along The Watchtower")

"Postings sind der neue Punk!", bekam ich neulich zu lesen. Und zwar in der neumodernen Selbsterkenntnis-Arena Facebook, mithin halb unter Freunden (respektive "Freunden"), halb öffentlich. Der Absender der Botschaft war einer der hauptberuflichen Pop-Kritiker der österreichischen Tageszeitung DER STANDARD, der offensichtlich gerade ein paar Watschen im Online-Forum seines Mediums ausgefasst hatte. Natürlich nur virtuell. Aber der gewollt originelle, bisweilen deftig-derbe Ton des Herrn - wenn ich mich recht erinnere, hatte er einige treffliche Anmerkungen zum Line-up des "Frequency"-Festivals gemacht - schien nicht bei allen Lesern auf Begeisterung gestoßen zu sein. Im Gegenteil.

Die Empörung brach sich in dutzenden, eventuell hunderten Postings Bahn. Ihr Tenor (Ausnahmen bestätigten die Regel): negativ. Doppelminusnegativ. Derart: Böse alte Männer verstünden die Welt nicht mehr, der Kritiker sei taub, geschmacklos, verbittert ("gescheiterter Musiker?"), mieselsüchtig oder generell unfähig (eventuell auch alles zusammen), derlei sei eines Qualitätsmediums nicht annähernd würdig ... Und so weiter. Und so fort. Knapp, dass nicht Lynchjustiz angedroht wurde. Einige der Kritiker-Kritiker wüteten absichtsvoll unter der Gürtellinie, andere versuchten es ihrem Hassobjekt gleichzutun und wohlgesetzte Worte zu finden. Worte, die wie Nadelstiche pieksen. Oder wie Axthiebe treffen. Ein kurzweiliges Schlachtfest, diese Expertenerregung samt postwendender Privaterregung. Business as usual? Faktum ist, dass Journalisten heute nicht mehr im einsamen Kritikerkammerl vor sich hin werken. Oder einen exklusiven Blick aus den Höhen ihres Elfenbeinturms genießen. Der Leser, Hörer, Seher - kurzum: der Medienkonsument - redet mit. Gibt seinen Senf dazu. Reagiert, exzerpiert, kommentiert. Gefragt oder ungefragt.

Die One-to-many-Kommunikationswege der Vergangenheit gehören mittlerweile wirklich der Vergangenheit an. Und wurden durch einen elektronischen Wirtshaus-Stammtisch ersetzt, an dem jeder zu Wort kommt, der meint, etwas zu sagen zu haben. Oder zumindest etwas sagen zu müssen. Publizistische Publikumsbeschimpfungen ohne Publikumsbeteiligung sind aus der Mode geraten. Kritiker, sagen Kulturwissenschafter, haben ihre Deutungshoheit verloren. Immerhin haben die meisten ihren Job - im engeren Sinn - noch.

Beinharte Ignoranz

Den geifernden Unmut, der einem bisweilen in dieser Rolle entgegenschlägt, halte ich für demutsfördernd. Ich zähle nicht zu jenen Schreiberlingen, die trotzig behaupten, es sei unter ihrer Würde (oder jedenfalls nicht gut fürs Seelenheil), auch nur einen Blick in die Online-Foren des STANDARD, des ORF oder des Zwerg-Bumsti-Magazins zu werfen. Und Vox populi solchermaßen mit Verachtung zu strafen. Und beinharter Ignoranz. Kurioserweise dringen dann auf verschlungenen Wegen doch immer wieder Stimmen, Kommentare und Meinungsbrocken zu den sensiblen Geistern vor. Und machen sie ganz unrund. Selten, dass Kritiker auf ihre Kritiker so beherzt kühl (im Sinne von "cool"), ja beinahe freudig erregt reagieren wie der eingangs erwähnte Kollege.

"Postings sind der neue Punk!", das hat doch was. Für sich. Denn: Wie in einem M.-C.Escher-Vexierbild gilt es auch dem p. t. Publikum einen Spiegel vorzuhalten. Und die eine oder andere sinnentleerte Fratze und Rumpelstilzchen-Pose zu entlarven. Tja, meine Damen und Herren Leser, Künstler, Labelbetreiber, Fans und Nebenerwerbsexperten: Warum lassen Sie sich gar so leicht provozieren? Irritieren? Zu emotionsgeladenem Feedback hinreißen? Es ist ja wohl nicht die Aufgabe eines kritischen Journalisten, alles und jede(n) gut zu finden. Ausschließlich Fakten zusammenzutragen. Alles bis ins letzte Detail durchzuargumentieren. Oder Seriosität mit Todeslangweile gleichzusetzen. Denn Langeweile ist eine journalistische Todsünde. Eine unterhaltsame Kritik - Unterhaltsamkeit ist die erste Tugend jeglicher Zeilenschinderei - muss auch nicht (pseudo)objektiv, konstruktiv oder apodiktisch sein. Ein krachender Verriss kann weit erregender, erkenntnisbringender und kurzweiliger ausfallen als das streichelweiche Gegenteil. It's a tough job, but someone's gotta do it.

Lernen wir, uns daran zu ergötzen. Lernen wir zumindest, damit kühl umzugehen. So wie die Kaste der Kritiker lernen muss, dass sie nicht mehr allein auf weiter Flur den Ton angibt. Sondern hinter jeder Ecke Stachelköpfe, Nadelträger und Cyberpunks rumlungern. Postings rule OK!

Meinem Geschmack nach eröffnet die Möglichkeit der direkten, unmittelbaren, gern auch anonymen Widerrede im ursprünglichen Medium selbst eine neue Dimension. Seien wir ehrlich: Ohne die kleingeistigen, halblustigen, beleidigten, belehrenden, unsinnig-verqueren und bisweilen auch reichlich dreisten Postings etwa im Online-Standard wäre die Lektüre des eigentlichen Blattes (das ja im Web weitgehend der Papierversion entspricht) nur das halbe Vergnügen. Und der halbe Gewinn. Denn eines ist offenkundig: Unter all den öffentlichen Stammtisch-Suderanten, Avatar-Anarchisten, Trollen und ewigen Besserwissern, die sich - natürlich! - in Webforen daheim wie bei Muttern fühlen, sind auch genug gescheite, hinterfragende, ergänzende und weiterführende Fakten- und Meinungslieferanten. Mehr als genug. Auch (und erst recht) anonyme.

Quod licet bovi, ...

Wenn Identitäts-Camouflage in diesem Zusammenhang per se fragwürdig ist, müssten auch geheime Wahlen, verdeckte Hinweise, anonyme Anzeigen, letztlich sogar Maskenbälle, Kostümgschnase und Dark Rooms durch die Bank unmoralisch sein. Das ist natürlich Unsinn, weil realitätsfremd. Und der menschlichen Natur zuwiderlaufend. Dass die Vox populi ungefiltert und ungeschminkt tendenziell dumpf klingt, selbst in avancierteren A-Schicht-Medien wie FM4 oder dem STANDARD, ist Standard. Dass hier wirklich grobe, eindeutige Verstöße gegen die guten Sitten und einschlägige Gesetze einer sachten, sensiblen Zensur zum Opfer fallen, auch. Das üblich-üble Geraune von der Hinterbank wird sowieso meist angenehm konterkariert durch sachdienliche Hinweise, auflockernde Ironie und zugespitzte Meinungen, die sonst eventuell wirklich einer Hinsichtl-Rücksichtl-Verzagtheit oder teflonbedampften Karriereplanung zum Opfer fielen ... So, where's the problem?

Und natürlich muss ein Journalist, der selbst eine quasi-offizielle Lizenz zur hemmungslosen Verbreitung eigener Subjektivitäten, Einschätzungen und Befindlichkeiten besitzt, nicht nur austeilen, sondern auch einstecken können. Im besten Fall können kritische Leserstimmen ein wichtiges Korrektiv sein. Dass manchem professionellen Schreiberling, der damit die Deutungshoheit verliert und sich pointierter (um nicht zu schreiben: harscher), kompetenter und eventuell gar berechtigter Kritik ausgesetzt sieht, der Reis geht, ist klar. Dass vieles - an Fakten, aber auch an Meinung - nur unter dem Schutzmantel eines Pseudonyms absetzbar ist (der übrigens ja auch nur ein oberflächlicher, vermeintlicher Schutz ist; fragen Sie Ihren Rechtsanwalt!), sollte dito klar sein. Die Lebendigkeit von Foren - die dies ja zumeist auch explizit ermöglichen und gestatten - ist eine Folge davon.

Nicht jeder Poster ist ein edler Ritter, der mit offenem Visier in die Arena reitet, auch wenn dies wünschenswert wäre. Auch nicht jeder Journalist ist ein nobler Streiter für das Wahre, Gute, Schöne. Sondern oft genug ein übler Propagandaknecht. Oder auch nur ein armes Würschtl, das Zeilenschinderei betreibt, Klischees wiederkäut, fingerfertig die Copy- and-Paste-Tastenkombinationen bemüht und stupenden Opportunismus zum puren Gegenteil verklärt.

Nebstbei: Zu Erscheinungen wie jener des öffentlichen Hass-Briefeschreibers Michael Jeannée fielen mir noch ganz andere Prädikate ein. Aber der hat sich ja schon als Kulturjournalist - man schlage seine Einschätzungen des Wiener Aktionismus nach oder halte in der Nationalbibliothek Ausschau nach Konzertkritiken aus seiner Feder - vor Jahrzehnten auf ewig disqualifiziert. Und mit den Kommunikations-Tools der Neuzeit, insbesondere Social Media, hat ein Silberrücken wie Jeannée sowieso nichts am Hut. Weil er damit nichts zu tun haben will. (Dass er damit anno 2011 als Medienprofi offenbar auch nichts zu tun haben muss, ist wieder ein ganz anderes, absonderliches Kapitel ... Quod licet bovi, non licet Iovi).

... non licet Iovi

Zurück zum Thema: Kehrt das Universum 2.0 verstärkt unsere dunkle Seiten hervor? Verleitet uns die - vermeintliche - Anonymität des Web, das überquillt vor "egomanischen Ich-AGs der Blogosphäre, hemmungslosen Dienstleistern (von Pornoindustrie bis Glücksspiel) und Massen von habituellen Selbstvermummern", wie Falter-Herausgeber Armin Thurnher kritisch postulierte, zu frischfröhlichem Heckenschützentum und Darth-Vader-Gehabe? Ich sage: Nein.

Jedenfalls nicht mehr als der Wirtshaustisch, der Schulhof, die Raucherecke im Büro oder die hierorts verhandelte, altbekannte Medien-Bassena. Denn die große Artikulationsmaschine Internet ist vor allem eines: ein Spiegel unserer selbst. Unserer wahren Meinungen, Aversionen, Vorlieben, Wünsche und Bedürfnisse. Die sich sonst unter einer - auch im analogen Alltag oft reichlich dünnen - Schutzschicht zivilisatorischer Etikette verborgen halten.

Natürlich ist es nicht immer erfreulich, in diversen Foren, Threads und Print-Extensions mit unverblümtem Feedback konfrontiert zu werden. Einiges davon zielt strikt unter die Gürtellinie. Aber jeder Leser, User, Empfänger, Urheber (und erst recht jede/r Profi-Journalist/in) wird, einen klaren Kopf vorausgesetzt, Spreu von Weizen trennen können. Und wollen. Folglich üble Anmache, billige Provokation und unsachliches Geraune von der Hinterbank als Entladungen armer Menschenseelen entschuldigen, die für - und somit gegen - sich selbst sprechen.

Es gilt die alte Regel: Respekt - also positiv aufgeladenen Neid - muss man sich erst verdienen, Mitleid gibt es gratis. Und das gilt ab sofort bidirektional. (Walter Gröbchen, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 30./31. Juli 2011)