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Eine Zukunft, die ohne Vergangenheit nicht zu haben ist: Maja Haderlap stellt Walter Benjamins "Engel der Geschichte" ihrem "Engel des Vergessens" zur Seite.

Foto: REUTERS/Herwig Prammer

Am Beginn des Romans Engel des Vergessens zweifelt das Mädchen, von dem erzählt wird, dass die von der Mutter über dem Bett aufgehängten Engel auf den Bildern wirklich auf sie aufpassen können. Sie hält die in den Wolken lebenden Wesen für zu naiv und unerfahren, um ihr Schutz auf der Erde zu bieten. Die Zweifel sind nicht unbegründet, denn das Leben am Bauernhof im Südkärntner Lepena-Graben ist ebenso wenig wie die umgebende Landschaft eine Idylle: "In den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur, Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen."

Beim Brotbacken erzählt ihr die Großmutter, wie wenig Brot es in Ravensbrück zu essen gegeben hat, zeigt ihr ein andermal ihren "schönsten Wintermantel", den sie bei der Räumung des Lagers getragen hat, und erwähnt immer wieder ihre Ziehtochter Mici und ihre Schwägerin Katrca, die als Asche aus dem Lager gekommen sind.

An den Wochenenden schickt die Mutter die Tochter ins Gasthaus, um den Vater zu holen, der vergessen hat, nach Hause zu kommen, und der ein andermal mit dem Jagdgewehr die Familie bedroht oder sich selbst erschießen oder erhängen will. Er war mit zwölf Jahren der jüngste Partisan und hängt am "Erinnerungshaken" des Krieges. Seine Zerstörungswut richtet sich nach innen und entlädt sich später nach außen, gegen die Mutter und das Kind, das dennoch ein "Vaterkind" bleibt. Aufgehängt wurde der Vater tatsächlich, wie er einmal erzählt, zuerst auf einem Baum, dann am nächsten Morgen haben sie "mich an den Kleidern auf einen Haken an der Wand gehängt, auf einen Art Kleiderhaken" und mit einer Peitsche geschlagen.

Die Mutter geht in ihren Märtyrergeschichten auf und will aus ihrem Leben ein "katholisches Schaustück" formen. Später werden sie und ihr Moped "ein unzertrennliches Paar" und sie wird aus dem Graben immer wieder wegfahren. Erzählungen von Unglücksfällen und Selbstmorden, Erfahrungen von Angst und Schrecken, Sprachlosigkeit und Unverständnis prägen die Kindheitslandschaft der Erzählerin: "Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss."

Maja Haderlap wählt als Chronistin ihrer Familiengeschichte und des slowenischen Partisanenkriegs in Kärnten, der jahrzehntelang als Heimatverrat denunziert wurde, obwohl er der einzige militärisch organisierte Widerstand auf österreichischem Territorium war, das Präsens als Erzähltempus. Ihre Ich-Erzählerin zeichnet die Spuren nach, die dieser Krieg in die Landschaft und die Körper der Menschen eingeschrieben hat. Gräben und Risse trennen die Täler, die Familien, die Nachbarn. Wirtshäuser sind bis heute Kampfplätze, wo die Partisanen als Banditen, Mörder und Spitzel beschimpft werden.

Es ist die Erfahrung der Fremdheit, die Haderlaps Erzählerin begleitet, ins Klagenfurter Gymnasium und später nach Wien, wo sie Theaterwissenschaft studiert, nach Ljubljana, wo sie sich aufhält, als der Krieg in Jugoslawien ausbricht, und während ihrer langjährigen Arbeit am Stadttheater Klagenfurt. Sie hat Angst, mit ihrer Familiengeschichte nicht mehr zu einem Land zu gehören, das "andere Erzählungen hören wollte", und begreift: "Zwischen der behaupteten und der tatsächlichen Geschichte Österreichs erstreckt sich ein Niemandsland, in dem man verloren gehen kann."

In ihrem autobiografischen Roman Engel des Vergessens rekonstruiert Maja Haderlap ihre Suche nach einer Sprache für das Niemandsland und reflektiert gleichzeitig die Möglichkeiten der Literatur als Geschichtsschreibung. Sie probiert zunächst slowenische "Sprachkleider" aus, schreibt Gedichte, um den Scherbenhaufen von unverständlichen Worten, Tagträumen, Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen zu benennen. Während ihrer Arbeit als Dramaturgin muss sie schließlich feststellen, dass die slowenische Sprache "meinen Schreibtisch geräumt und ihre schönsten Kleider mitgenommen hat". [Nachzulesen sind die beiden Lyrikbände gemeinsam mit ihren bereits in deutscher Sprache geschriebenen Gedichten in einer wunderschönen dreisprachigen Ausgabe (Slowenisch/Deutsch/Englisch, Drava-Verlag, 1998).]

Die Entscheidung für die deutsche Sprache ermöglicht Maja Haderlap schließlich die Distanz, um von etwas zu erzählen, das keine "zusammenhängende Geschichte" ergibt: Zu berichten ist von einer "Geschichte zu Bruchstücken zerfallen". In einer ebenso präzisen wie poetischen Sprache sammelt Haderlap in parataktischen Aneinanderreihungen von Sätzen und Fragmenten die Scherben des Versprengten und Verstreuten der Scharmützel auf, die vielen Gesichter der Partisanen, die Listen von Sterbensarten und Todesfällen.

Schonungslos wagt sich Maja Haderlap an das "Eingedenken" der Katastrophengeschichte des Nationalsozialismus und des Partisanenkrieges. Dass sie für einen Ausschnitt daraus zu Recht mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 in Klagenfurt ausgezeichnet wurde, sollte die Aufmerksamkeit für dieses notwendige Buch erhöhen. Der Engel der Geschichte ist eines der zentralen Bilder, die Walter Benjamin in seinem letzten Essay Über den Begriff der Geschichte beschreibt, der Maja Haderlaps Poetik grundiert. Mit dem Blick auf eine Zukunft, die ohne Vergangenheit nicht zu haben ist, stellt sie ihm einen Engel des Vergessens zur Seite, der sie am Schluss des Romans beim Besuch von Ravensbrück in die Gegenwart begleitet und die Engelbildchen über dem Kinderbett endgültig entfernt hat: "Der Engel des Vergessens dürfte vergessen haben, die Spuren der Vergangenheit aus meinem Gedächtnis zu tilgen." (Christa Gürtler, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 30./31. Juli 2011)