Marie Laurenti
die pole frosten meinen traum. lyrik.
€ 14,40/96 Seiten. Haymon, Innsbruck 2003

Foto: Buchcover
Wenn die Ruhe brüllend wird, keine Silbe von außen gegen das Gehör strebt, kurzum, wenn der Kopf in einem Schweigmeer schwimmt, und der Körper unter dem Schweigen mit Bewegung beschäftigt ist, ereignen sich Gedichte.

Kunst, Literatur machen stets etwas sichtbar. An sich gibt's ja genug zu sehen in unserer bebilderten, beschallten Welt, und auch an Menschen fehlt es dem Planeten nicht. Das Gehen in Menschenmengen, das Stehen vor Sonnenfinsternissen, aber auch in Einkaufshäusern, das Sitzen in den Etablissements des öffentlichen Vergnügens, vor den Fernsehern, den Computern, mit den Partnern um den Mittagstisch, das Liegen auf Matratzen, auf Holzpritschen, auf Menschen und in den Krankenhäusern, Positionen also des täglichen Bedarfs, lassen die Wortmaschinen spiegelbildlich arbeiten. Die Maschinen unterstützen die Positionen, die Sprache appelliert, gibt kund, gibt nicht preis, das soll sie nicht beim Gehen, Sitzen, Liegen.

Auf erworbenen Bahnungen kommt alles ins Verstehgeflecht; wir setzen uns mit allerhand in Beziehung, wenn der Tag lang und nicht ohne Mühe ist. Um seine Anforderungen erfüllen zu können, sind wir zu einer gewissen funktionellen Verstehenswütigkeit verdammt. Alles, was dahergesegelt kommt an Wörtern und Wörter verschlingenden Satzteilen, muss eingeordnet und mit dem Aha-Vermerk abgespeichert werden. So verstehen wir das Sichtbare, Hörbare und Fühlbare auf sein Etikett hin, hören wir den nahen Klang, schmecken das Frische. Satt wird das alles und prall. Plötzlich Stille. Dunkelheit, Schlaf oder Tod. Jähes Verstummen, ein Straucheln, ein Purzeln, ein Wälzen, das Universum des Gedichts.

In diesem Universum bewegt sich Marie Laurenti. Sie zeigt eben am Gehen das Straucheln, am Sitzen das Purzeln und am Liegen das Wälzen. Sie hört am nahen Klang den fernen, schmeckt an der Frische die fatale Geschichte dieser Frische, erfasst im Satten und Prallen den großen Hunger, die Sehnsucht nach Erkennen der Welt hinter den sichtbaren Aufmerksamkeitsobjekten.

Wie jeder Dichter, wie jede Dichterin beziffert sie die Null, bewörtert sie das Schweigen, handeln ihre Gedichte von dem, wovon sie nicht sprechen.

Marie Laurenti hat ihren eigenen Ton. Ihr Universum ist für den Leser betretbar. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 24./25.5.2003)