Die Serie mit Werken des Jubilars wird unregelmäßig fortgesetzt.

Grafik: STANDARD

Etwas Fiebriges, Überhitztes dünstet in Heinrich von Kleists später Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811). In ihr, die im heutigen Haiti spielt, ist die Menschheit in zwei Parteien zerfallen: Die Sklaven von einst, deren unterschiedliche Farbnuancen Kleist anmerkt, jagen anno 1803 ihre weißen Peiniger quer über die Insel. Es ist ein Schock, dass Kleist mit stoischer Chronistenfeder gleich zu Anfang einen "fürchterlichen alten Neger" namens Congo Hoango als besonders niederträchtiges Menschenexemplar vorführt.

Wiewohl Congo von seinem Herrn, dem Plantagenbesitzer Guillaume von Villeneuve, nichts als Wohltaten erfahren habe, jagt er diesem "die Kugel durch den Kopf". Fortan herrscht nicht etwa nur Krieg zwischen den "Rassen", sondern es plagen sich die Dunkelhäutigen damit ab, die weißen Ausbeuter auf besonders niederträchtige Art zu meucheln.

In Congo Hoangos Haus sitzt eine alte Mulattin namens Babekan: Wann immer ein Weißer an ihren Herd flüchtet, wird er von der tückischen Vettel durch die Vorspiegelung ihrer Hilfsbereitschaft erst eingelullt, hierauf gewaltsam zur Strecke gebracht. Zur Hand geht ihr dabei das 15-jährige Töchterchen Toni, das die ermatteten Gäste sexuell aufreizt und so noch sicherer ins Netz der mörderischen Schliche verstrickt. Toni scheint allein wegen ihrer "ins Gelbliche gehenden Gesichtsfarbe" für die Betörung weißer Flüchtlinge vorzüglich geeignet. Kleist "liebt" totale Kriege; es scheint für ihn schlechthin undenkbar, dass man Konflikte, seien sie auch noch so gewaltsam, einhegen und im Interesse aller abmildern kann.

Ehe sich nun ein edler Schweizer namens Gustav von der Ried in das mörderische Kabuff verirrt und eine seltsame Liebesgeschichte ihren ebenso erwartbaren wie doch merkwürdig stockenden Verlauf nimmt, verdienen es Kleists Anmerkungen, näher in Betracht gezogen zu werden. Dem Krieg zwischen den Hautfarben gewinnt er eine ingeniöse Erläuterung ab: "als ob die Hände eines Körpers, oder die Zähne eines Mundes gegeneinander wüten wollten, weil das eine Glied nicht geschaffen ist, wie das andere".

Der preußische Abenteurer sieht, wiewohl er an Versöhnung nicht glauben mag, klar den Zusammenhang: Das Auseinanderdividieren der Menschen tritt ein fürchterliches Geschehen los: Es führt zu grausamster Selbstzerfleischung.

Man könnte sogar sagen: Es bringt nichts, blindlings gegeneinander zu wüten und zu rasen. Schildert Kleist Tonis Liebreiz - sie wohnt dem fremden Edelmann bei und verteidigt ihn bis zum Untergang -, so ist es "der bloße elende Ausdruck einer kalten und grässlichen Verräterei". Zugleich aber "übernahm sie, von manchen Seiten geweckt, ein menschliches Gefühl".

Körper und Seelen werden in Kleists chaotischem Kosmos gleichsam "gehijacked". Die Liebe überfällt ihre Opfer mit einer Gewaltsamkeit, die die Menschen aus allen symbolischen Ordnungen hinauskippt. Auch bleiben die Verliebten einander ein Rätsel: Gustav missdeutet Tonis Anstalten zu seiner Rettung und schießt sie nieder. Über sein Versehen aufgeklärt, jagt er sich seinerseits eine Kugel "durchs Hirn". (Ronald Pohl / DER STANDARD, Printausgabe, 28.7.2011)