Eine große Säuberungswelle im irakischen Stil wollen die Rebellen nach den Sturz Gaddafis nicht.

Im Goldatelier von Nasser in einer Seitengasse des Souks von Bengasi hängt die Fotomontage einer Fußballmannschaft, die es zu schlagen gilt. Die Elf besteht aus Muammar al-Gaddafi, seinen Söhnen und seinem engsten Zirkel.

Der Kreis, den die Libyer vom Aufbau ihres zukünftigen Staates ausschließen wollen, ist nicht viel größer. "Alle, die sich beim Ausbruch der Revolution am 17. Februar geweigert haben, auf das Volk zu schießen, erfüllen das Kriterium der Glaubwürdigkeit, auch wenn sie vorher für das Regime gearbeitet haben. Wir brauchen diese Leute, wir haben keine andern. Nichts war vorbereitet für einen Sturz Gaddafis" , meint Lutfi Abdel Aziz Katkut, Chef einer privaten Firma im Ölsektor im Gespräch mit dem Standard.

Mit Ausnahme von einigen Dutzend Libyern, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind, um sich jetzt zu engagieren, hat die große Mehrheit jener, die in Bengasi den Neuanfang gestalten, im System mitgemacht. Die Frage ist allenfalls, wie weit. Sie waren Geschäftsleute, Professoren oder Minister. Eine Opposition gab es nicht. Öffentliche Kritik wie sie etwa Mustafa Abdel Jalil, der jetzige Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates, an der Menschenrechtspraxis geübt hatte, war eine Ausnahme. Aber auch er war in den Fall der bulgarischen Krankenschwestern involviert.

Amal al-Obeidi, in England ausgebildete Politologin, arbeitet heute in einem Thinktank an neuen politischen Strukturen. Vor einigen Jahren hat sie auch an dem Verfassungsprojekt von Präsidentensohn Seif al-Islam mitgemacht. "Wir haben uns an alles geklammert, was nach Öffnung aussah" , begründet sie das heute.

Der harte Kern des Regimes, vor allem bestehend aus den Mitgliedern der Revolutionskomitees, ist tatsächlich klein. Er wird auf weniger als fünf Prozent der Bevölkerung geschätzt. Weniger als ein Prozent sind die Gaddafi-Protegés, die durch Korruption das große Geld gemacht haben. Das hat sich auch während der Revolution in Bengasi gezeigt. Das ganze staatliche Gebilde, das nur aus schwachen Institutionen bestand, brach wie ein Kartenhaus zusammen.

35 Personen von 120.000

In al-Bayda, einer Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern, wurden 35 Personen zu diesem inneren Kreis gezählt und unter Hausarrest gestellt. Jeder, der sich zu einem demokratischen Neuanfang bekennt und kein Blut an den Händen hat, ist in Abdul Jalils Heimatort aufgefordert, sich den Rebellen anzuschließen. Eine Säuberungswelle wie im Irak, wo zehntausende Baath-Partei-Mitglieder mit Berufs- und Politikverboten belegt wurden, soll es in Libyen nicht geben.

Gaddafis 42 Jahre dauernde Diktatur hat viele tausend Opfer gefordert: Tote, Verschwundene, Gefolterte und politische Häftlinge. Trotz dieser Brutalität hat es bis jetzt nur wenige Racheakte gegeben. "Die Menschen haben bewiesen, dass sie verantwortungsbewusst sind und die Propaganda von Gaddafi Lügen gestraft" , erklärt Saleh al-Senussi. Die Aufarbeitung der Vergangenheit gehört aber derzeit nicht zu den Prioritäten. Die Erfahrungen aus Bengasi stimmen optimistisch für Tripolis. "Es wird nicht viele geben, die dieses hohle Regime verteidigen, wenn es zusammenbricht" , ist der Professor für internationales Recht an der Universität Bengasi überzeugt. Einen Bürgerkrieg wie im Irak schließt er aus. (Astrid Frefel aus Bengasi/DER STANDARD, Printausgabe, 28.7.2011)