Ingo Vogl (41), war früher als Sozialarbeiter tätig und arbeitet heute hauptberuflich als Kabarettist. Er ist seit 1994 Freiwilliger Mitarbeiter beim Roten Kreuz in Salzburg, im Jahr 2000 absolvierte der die Ausbildung zur Krisenintervention in Wien. Sein erster Einsatz in diesem Bereich folgte bei der Brandkatastrophe der Gletscherbahn in Kaprun im Jahr 2000.

Foto: Rotes Kreuz

Die Ursprünge der Krisenintervention liegen in den USA, wo man ab den Siebziger Jahren begann, von den Erfahrungen des Militärs zu lernen. Vorreiter in Europa war Deutschland, der Arbeiter-Samariter-Bund gründete in München 1994 das erste Team. Österreich folge 1998/99, die Anfänge waren vom Grubenunglück in Lassing (1998) und vom Lawinenunglück in Galtür (1999) sowie von der Brandkatastrophe in der Gletscherbahn in Kaprun (2000) geprägt. Das Team in Salzburg besteht seit 2007, pro Jahr kommt es zu 240 Einsätzen.

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76 Menschen sind bei dem Attentat in Oslo am Freitag ums Leben gekommen, sie alle hinterlassen trauernde und aller Wahrscheinlichkeit nach hilflose, wütende Angehörige. Wer völlig unerwartet einen nahestehenden Menschen verliert, findet sich von der einen auf die andere Sekunde in einer akuten Krisensituation wieder. Ob es sich um ein großflächiges Ereignis wie jenes in Norwegen oder um einen Suizid oder einen schweren Verkehrsunfall im privaten Umfeld handelt, spielt dabei keine große Rolle: Aus dem Alltag wird plötzlich eine Krise.

Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Angehörige in solchen Momenten völlig auf sich alleine gestellt. Heute sorgen Kriseninterventionsteams für den nötigen Halt in den ersten schlimmen Stunden. In Österreich hat das Rote Kreuz mittlerweile in allen neun Bundesländern solche Teams eingerichtet, die aus ehrenamtlichen Mitarbeitern zusammengesetzt sind. Die Psychologen, Pädagogen, Theologen, Sozialarbeiter, Krankenpfleger, Mediziner und Sanitäter sind rund um die Uhr auf Abruf erreichbar. Der Einsatz erfolgt immer zu zweit, Ziel ist es, traumatisierte Personen zu betreuen, ihnen bei der Anerkennung des Geschehenen zu helfen und bei ersten, organisatorischen Schritten zur Seite zu stehen.

Ingo Vogl ist Leiter des Kriseninterventionsteams in Salzburg. Im Gespräch mit derStandard.at erzählt er, wie so ein Einsatz abläuft, wie Menschen in Krisensituationen reagieren und wie die ehrenamtlichen Mitarbeiter selbst mit den belastenden Situationen umgehen.

derStandard.at: Bei welcher Art von Einsätzen wird das Kriseninterventionsteam gerufen?

Ingo Vogl: Wir werden nicht von Privaten sondern von anderen Einsatzkräften wie Polizei, Rettung, Notarzt oder Feuerwehr gerufen. Diese sind die Ersten vor Ort und können einschätzen, ob ein Kriseninterventionsteam wahrscheinlich notwendig ist. Unsere Einsätze beziehen sich hauptsächlich auf den plötzlichen außergewöhnlichen Todesfall und den Suizid. Wir begleiten die Polizei bei der Überbringung der Todesnachricht. Auch bei Kindernotfällen wie plötzlichem Kindstod oder bei Fällen vermisster Personen, wie etwa bei Lawinenunglücken, sind wir als Unterstützung dabei.

derStandard.at: Ihr Team betreut also ausschließlich Angehörige von Verstorbenen oder Schwerverletzten?

Ingo Vogl: Richtig. Unsere Aufgabe ist die Begleitung von Angehörigen, aber auch von Augenzeugen und Ersthelfern, die bei dramatischen Ereignissen dabei waren, dazu gehören etwa ein schwerer Verkehrsunfall oder das Ertrinken eines Kindes. Wenn eine ganze Gruppe oder eine Schulklasse betroffen ist, zum Beispiel weil ein Lehrer bei einem Ausflug verstirbt, sprechen wir von einer "komplexen Schadenslange".

derStandard.at: Sie treffen 30 bis 40 Minuten nach dem Ereignis am Ort des Geschehens ein. Welches Bild bietet sich Ihnen dann?

Ingo Vogl: Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist bereits eine andere Einsatzkraft dort, die uns im Vorfeld über die genaue Sachlage informieren kann, zum Beispiel darüber, wie viele Betroffene vor Ort sind oder ob es Menschen gibt, die noch nicht über das Ereignis Bescheid wissen. Unsere Aufgabe ist es dann, den Kontakt mit den Angehörigen aufzunehmen. Wir versuchen im Grunde, zu begleiten und zu vernetzen. Oft haben die Menschen in so einer Akutsituation hunderte Fragen: Ist das wirklich wahr? Wo ist der Verstorbene jetzt? Wie ist das Ereignis passiert? Hat man noch alles zu seiner Rettung getan? Wie sagen wir das den Kindern? Gibt es eine Obduktion? Kann ich mich von meinem verstorbenen Angehörigen noch verabschieden? Warum kann ich nicht weinen? Alle diese Fragen werden innerhalb der ersten zwei Stunden nach dem Ereignis gestellt.

derStandard.at: Warum ist ein rasches Eintreffen des Kriseninterventionsteams so wichtig?

Ingo Vogl: In den ersten zwei, drei Stunden passieren wahnsinnig viele organisatorische Dinge, viele Fragen wollen abgeklärt werden. Sehr viele Aufgaben sind nur in diesem Zeitraum nutzbar und machbar, zum Beispiel wenn eine Obduktion stattfindet und der Angehörige den Verstorbenen noch ein letztes Mal sehen möchte.

derStandard.at: Wie erleben Sie die Angehörigen in dieser Krisensituation?

Ingo Vogl: Sie reagieren natürlich so vielfältig wie die Menschen eben sind, aber einige Dinge sind fast immer gleich. Wenn wir eine Todesnachricht überbringen ist es häufig so, dass die Angehörigen nicht anerkennen, was passiert ist. Häufig wollen sie unbedingt zum Verstorbenen, um ihn zu sehen. Dann stellt sich die Frage, wie und ob das machbar ist oder ob möglicherweise sogar eine Identifizierung notwendig ist. Bei vielen Ereignissen haben die Angehörigen Schuldgefühle weil sie denken, das Geschehene wäre irgendwie abwendbar gewesen. Wir erklären ihnen dann, dass Schuldgefühle keine Schuld sind, sondern eine Belastungsreaktion die versucht, das Ereignis irgendwie verstehbar – im Sinne von abwendbar – zu machen.

In der Gefühlsebene reagieren manche ruhig, organisiert, klar, die auf sie zukommenden Aufgaben wahrnehmend und gleichzeitig verblüfft über sich selbst. Andere sind emotional. Aber am wenigsten reagieren Menschen so, wie man es im Film sieht: brüllend und schreiend niederbrechend, entgleisend und schwer in den Griff zu bekommen. Und selbst wenn das der Fall sein sollte, sind diese Menschen meistens nach zehn bis 15 Minuten relativ gut durch eine oder zwei Fragen aus ihrer Gefühlsreaktion herauszuholen. Sie schwanken dann zwischen emotional überflutend und ruhig. Äußerst selten müssen wir jemanden durch ärztliche Unterstützung Hilfe zukommen lassen, weil er sich gar nicht mehr aus seiner Reaktion herausbringen lässt.

derStandard.at: Was können Sie für Angehörige in so einer Situation überhaupt tun?

Ingo Vogl: In einer dramatischen Situation kommen Herausforderungen auf einen zu, auf die man nicht vorbereitet ist. Und man muss auch nicht in der Lage sein, diese alleine zu bewältigen. Wir achten darauf, dass wir den Menschen die Möglichkeit zur Handlungsfähigkeit bieten, rundherum ein stabiles soziales Netz gewinnen, dass Menschen da sind, die eine Stütze sein können. Wenn wir merken, dass das soziale Netz tragfähig ist, sind wir die ersten, die wieder gehen. Wir haben kein Interesse, uns in die Bewältigung einer dramatischen Situation einer Krise einzumischen, sondern wir wollen hilfestellend sein. Im Durschnitt dauern die Einsätze bei uns in Salzburg vier Stunden. Damit ist unser Auftrag abgeschlossen.

derStandard.at: Wie gehen Sie persönlich mit dieser psychisch belastenden Tätigkeit um?

Ingo Vogl: Zum einen gibt es im Team Nachbesprechungen und gegebenenfalls kann man bei Kollegen gezielt nachfragen. Gleichzeitig haben wir auch die Möglichkeit, uns Hilfe zu organisieren. Aber ganz persönlich geht jeder anders damit um, jeder hat seine Möglichkeiten, Stress und Herausforderungen am besten zu bewältigen. Das wissen wir, und darauf geben wir auch acht. Ich genieße es zum Beispiel mir Gutes zu tun, indem ich mit meiner Familie einen Ausflug in die Berge mache oder etwas koche. Dadurch kriege ich die Sicht wieder klar und nehme mir Zeit, die Dinge abzuschließen.

Gleichzeitig ist es meistens so, dass wir aus den Einsätzen – das klingt vielleicht paradox – mit einem relativ guten Gefühl herausgehen. Das kommt daher, dass wir gut vorbereitet und mit einer klaren Aufgabe in eine dramatische Situation gehen. In dieser können wir anderen Menschen – trotz der gesamten Dramatik – Halt geben und quasi wie ein Geländer auf einem schmalen Grat für sie sein. Das gibt uns das Gefühl, die Arbeit war sinnvoll und hilfreich. (Maria Kapeller, derStandard.at)