Noch immer ist es nicht vorstellbar, dass die Vereinigten Staaten in weniger als einer Woche zahlungsunfähig sind. Aber das Albtraumszenario der Finanzmärkte und der gesamten Weltwirtschaft rückt näher. In der Nacht auf Dienstag haben die Reden von US-Präsident Barack Obama und dem republikanischen Kongressvorsitzenden John Boehner zum Streit über die Anhebung der Staatsschuldengrenze gezeigt, dass beide Seiten in Inhalt und Stil weiter denn je auseinanderliegen - und das, nachdem sie vergangene Woche schon fast einen Deal in der Tasche hatten.

Obama präsentierte sich in seiner Fernsehansprache als Staatsmann, der einen ausgewogenen Kompromiss zum Wohle der Nation verfolgt. Boehner pochte - ganz im Sinne der Tea-Party-Fraktion in seiner Partei - auf eine revolutionäre Wende hin zu einer völlig neuen Wirtschaftspolitik mit noch weniger Staat und Steuern. Und beide schienen viel weniger daran interessiert, Gemeinsamkeiten auszuloten, als ein allfälliges Scheitern der Verhandlungen dem anderen in die Schuhe schieben zu können.

Wer bei diesem politischen Pokerspiel die besseren Karten hat, ist unklar. Die Republikaner setzen offenbar darauf, dass Obama doch noch ein Paket ohne Steuererhöhungen schlucken wird oder gar eine nur geringe Anhebung des Schuldenlimits, die eine neuerliche Debatte inmitten des Wahlkampfs 2012 erzwingen würde.

Obama hat zumindest das Letztere kategorisch ausgeschlossen. Aber er muss fürchten, dass die katastrophalen Folgen einer Zahlungsunfähigkeit ihm in die Schuhe geschoben werden, selbst wenn die Mehrheit der Amerikaner mit seiner Position übereinstimmt und nicht mit jener der Republikaner. Diese haben sich so fest einzementiert, dass ein rettender Deal fast nur noch auf Kosten der Glaubwürdigkeit des Präsidenten zustande kommen kann.

Selbst in diesem Fall hätte die amerikanische Wirtschaft bereits irreparablen Schaden erlitten. Das Vertrauen der Märkte in die Fähigkeit der Bundespolitik, Lösungen für die großen Probleme zu finden, ist erschüttert, der Verlust der Top-Bonität wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Schuld daran ist die Tea Party, unter deren Einfluss die gesamte republikanische Partei noch weiter nach rechts gerückt ist. Selbst Ronald Reagan und George W. Bush würden dort heute als Linksabweichler abgelehnt werden.

Anders als in Europa hat dieser Rechtsradikalismus vor allem wirtschaftliche Ziele: Seine Vision ist ein Nachtwächterstaat, der kaum noch Steuern einhebt und keine Sozialleistungen liefert. Um das zu erreichen, sind Leute wie Boehners Stellvertreter Eric Cantor und die prominente Abgeordnete Michele Bachmann bereit, den Staatsbankrott in Kauf zu nehmen. Und weil sie um die Stimmen der radikalen Basis buhlen, sind praktisch alle Präsidentschaftskandidaten auf diesen Kurs eingeschwenkt: Sie unterzeichneten ein Manifest, das Steuererhöhungen für immer ausschließt.

Eine Budgetsanierung durch Einsparungen allein aber ist weder politisch noch rechtlich möglich. Daher droht den hochverschuldeten USA unter den Republikanern ein südeuropäisches Schicksal. Nur die Wähler können dies abwenden, indem sie zumindest die radikalsten Vertreter in die Wüste schicken. Aber Wahlen werden meist von der Wirtschaftslage entschieden - und die spricht derzeit gegen Obama und seine Demokraten. (Eric Frey, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 27.7.2011)