Helmut Krausser, "die letzten schönen tage". € 20,55 / 224 Seiten. DuMont-Buchverlag, Köln 2011

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Das Eingangskapitel, "Becky" betitelt, bleibt lange Zeit ein Fremdkörper in die letzten schönen tage. Und es wirkt befremdlich. Denn Helmut Krausser bemüht sich, den Slang der Kids von Toronto ins Deutsche bzw. Berlinerische zu übersetzen. Das klingt aber wie in einer schlechten Synchronisation von Wenzel Lüdecke: "Paß uff, ich geb dir fünfzig Steine, wenn du ihn mal küßt. Da holst du dir keine Krankheit von."

Doch schon mit dem zweiten Kapitel zieht Krausser in seinen Bann: Er erzählt von zwei pensionierten Lehrerinnen, die für 14 Tage nach Florida reisen. Obwohl die Frauen unterschiedlicher nicht sein könnten, entspinnt sich zwischen ihnen eine zarte Liebesbeziehung. Dass diese in einer mittleren Katastrophe endet, erscheint fast unausweichlich.

Erst im dritten Anlauf kommt Krausser zum eigentlichen Kern: einer raffiniert gebauten Dreiecksgeschichte, in der jeder Lügengebilde errichtet, die irgendwann zusammenstürzen. Kathi, Chorsängerin in den Mittdreißigern, ist zerrissen zwischen zwei Männern. Den einen, Serge, bewundert sie ob dessen Bildung. Körperlich hingezogen fühlt sie sich jedoch zu David, einem Fotografen. Serge, Werbetexter in Berlin und hochsensibel, merkt anfänglich nur unbewusst, dass er betrogen wird: Er wird von psychotischen Zuständen befallen - und schließlich von wilder, äußerst aggressiver Eifersucht gepackt.

Dass auch die beiden Eingangserzählungen das Thema Ménage-à-trois variiert haben, kapiert man erst viel später. Wie man zunächst auch den Hinweis auf Jules und Jim - eine der beiden Lehrerinnen heißt Jule - überliest. Denn man ist vorerst gut damit beschäftigt, die Mosaiksteine zum Bild zu ordnen: Jeder der drei Protagonisten des Hauptstrangs erzählt die Vorkommnisse tagebuchartig und in Ich-Form, also aus seiner Perspektive. Das ermöglicht Selbstreflexionen (jeder hält sich für einen Versager) wie auch amüsante Betrachtungen (etwa über den Wert der Bücher). Zudem spielt Krausser natürlich auf Rashomon an.

Im Gegensatz zu Kurosawas Film weiß man aber nie sofort, welcher der Ich-Erzähler gerade die Situation kommentiert. Zudem unterbricht Krausser einmal die strenge Chronologie: Er treibt die Handlung voran, um dann wieder in der Vergangenheit anzusetzen. Der Leser verfügt daher, im Gegensatz zu dem einen oder anderen Beteiligten, über mehr Wissen. Dieses hilft ihm aber nicht wirklich weiter: Geradezu meisterhaft legt Krausser Fallen - und mit diebischer Freude führt er den Leser in die Irre. Wenn zwei der drei Helden die gleiche E-Mail zitieren, sollte man lieber nicht glauben, die Wiederholung überlesen zu dürfen.

Natürlich bleibt Krausser, von dem im Oktober der Krimi Aussortiert erscheinen wird, den Themen seines letzten Romans mit dem programmatischen Titel Einsamkeit und Sex und Mitleid (2009) treu. Wieder kippen heitere Momente unvermutet ins Gegenteil, wieder sind alle Figuren irgendwie miteinander verstrickt. Diesmal aber verlassen sie Berlin, das im Schnee versinkt. Doch auch auf Malta kann einen die Vergangenheit einholen. Mit unglaublicher Rasanz - der Klappentext verspricht nicht grundlos eine "schnelle Tragikomödie" - steuert das Geschehen auf den Showdown zu. die letzten schönen tage sind einer jener Romane, die man, je näher man zum Ende kommt, desto langsamer liest. Um eben nicht gleich am Ende zu sein.  (Thomas Trenkler/ DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.7.2011)