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"Gott schütze uns vor Verrückten wie Sarah Palin!" Sosehr er die Welt verachtet, so sehr sorgt er sich um sie: Morrissey.

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Wien - Als er das Lied vom todbringenden Doppeldeckerbus sang, dessen letale Kraft ihm egal sei, wenn er nur an der Seite seiner Liebe sterben würde, sickerte Wasser aus einem Konzertbesucherinnenauge. Auch wenn Morrissey There's A Light That Never Goes Out in einer etwas bockigen Version gab, selbst nach gut 25 Jahren verfehlt dieses Liebeslied nicht seine Wirkung.

Aber gewonnen hatte er an diesem Donnerstagabend im Wiener Konzerthaus schon vor dem ersten Song. Während die Band die Bühne betrat, erhob sich der Saal aus den Sitzen und trug sich und seine Zuneigung für den 52-jährigen Briten an die Bühne, auf der Morrissey mit dem Smiths-Song I Want The One I Can't Have programmatisch eröffnete: nicht erwiderte Liebe, unverstandene Gefühle, die schlechte Welt - der Themen-Pool seiner Kunst.

Morrissey ist die Fleisch gewordene Ambivalenz aus Zuneigung und Ekel gegenüber der eigenen Spezies. Gequält von denselben Bedürfnissen und Begierden, die wir alle in uns tragen, plagt ihn bereits diese elende Gleichmacherei. Schließlich ist die Menschheit ein barbarischer Haufen Idioten auf dem Weg in den Abgrund. Ob ihn die Blödheit und oder die Hässlichkeit der Welt mehr abstößt - er weiß es nicht, aber er weiß es so wunderbar nicht.

Zum Zwecke der Selbstreinigungstherapie begann Stephen Patrick Morrissey in den frühen 1980ern zu singen. Zuerst als gerne mit Blümchen im Hosentürl geschmückter Sänger von The Smiths: klassenkämpferisch und romantisch. Ab 1988 etablierte er dann mit denselben Attributen seine Solokarriere.

Nach einem stringenten Werk bis in die Mitte der 1990er-Jahre hinein kehrte der zornige Dandy erst 2004 mit You Are The Quarry zurück und machte uns eindrucksvoll bewusst, wie sehr wir ihn vermisst hatten. Morrissey ist die Beatles all jener, denen die Beatles zum Halse heraushängen, der David Bowie für jene, denen Bowie zu gewöhnlich wurde, der glamouröse Star für alle, die vor der Oberflächlichkeit des Glamours zurückschrecken.

Niemand versteht mich

So ernsthaft Morrissey diese seine Mission betreibt, er gestattet sich doch auch profane Pausen, in denen er den Zuspruch derer genießt, die fühlen wie er. Auch wenn er selbstverständlich bezweifelt, dass ihn irgendjemand wirklich versteht: "How can anybody possibly know how I feel?", heißt das dann.

In einem roten Hemd mit schwarzem Saum, wie es sonst nur spanische Hahnenkämpfer halbwegs würdevoll tragen können, stakste der Mann aus Manchester über die Bühne. Mit dem Mikrokabel schlug er Wellen, streckte den Arm gen Himmel, umschlang sich selbst oder schüttelte huldvoll Hände in den ersten Reihen. Mit Irish Blood, English Heart erhöhte die Band Tempo und Druck, Schweiß sickerte in das Tuch des Meisters, das dieser sogleich ein wenig öffnete. In etwas mehr als einer Stunde führte Morrissey durch einen Ausschnitt seines Katalogs. Dabei überwog jene Ästhetik, die seine letzten Alben prägte. Auf diesen pflegt sein Gitarrist und "Musical Director" Boz Boorer einen eher grobschlächtigen rockistischen Stil, dem es mitunter arg an Eleganz mangelt.

Dementsprechend wurde dann auch durch People Are The Same Everywhere gehobelt, einem von drei neuen Songs, die Morrissey darreichte. Scandinavia, ein weiteres neues Stück, war von heftigen Rhythmen geprägt, während Action Is My Middle Name vergleichsweise lieblich klimperte.

Der Saal reagierte darauf noch etwas kühl, für immergrüne Freuden sorgten indes das hübsche Singalong Everyday Is Like Sunday oder eine Interpretation von Lou Reeds Satellite Of Love, dessen Feinheiten Boorer und Co leider betonierten.

Was an Eleganz fehlte, machte Morrissey mit Gesten, Mimik und Pathos wett. Mitunter erinnerte sein Antlitz an Stan Laurel, dann wieder versenkte er sich geschlossenen Auges in einen Song. In kampflustigen Ansagen warnte er vor Verrückten wie Sarah Palin, Gaddafi oder Mahmud Ahmadi- Nejad und geißelte die Fleischindustrie als größtes Übel der Welt - um konsequent eine gleißende Version von Meat Is Murder zu spielen.

Währenddessen stahl er sich von der Bühne, um zur einzigen Zugabe First Of The Gang wiederzukehren, mit frischem Hemd, als alter Held in neuem Glanz: "Arrivederci Vienna, arrivederci."  (Karl Fluch / DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.7.2011)