DER STANDARD bat den Russland-Experten Gerhard Mangott um eine vertiefende Zusammenschau seiner Argumente.

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Das litauische Volk hadert zu Recht mit seiner Geschichte. Von den Braunhemden 1939 an die rote Diktatur Stalins verraten, stellten sich die Litauer 1941 in die Reihen der Nazis und mordeten im Bataillon PPT und im Rollkommando Hamann ihre jüdischen Mitbürger. 1944 fielen sie der vorrückenden Roten Armee anheim, gegen deren Besatzung sie sich als partisanenkämpfende "Waldbrüder" bis 1953 widersetzten. Vertreibung, Flucht, Deportation und Massenmord suchten das litauische Volk mit den roten Besatzern heim.

Anders als Estland und Lettland erlebte Litauen aber keine massenhafte Ansiedlung ethnischer Russen; Die Bevölkerung blieb mehrheitlich litauisch. Dissens, ziviler Ungehorsam und heimlich in Umlaufgebrachte regimekritische Literatur (Samizdat) blieben auch in den Jahren der roten Diktatur erhalten. Das erklärt auch, warum gerade in Litauen mit der national-konservativen Bewegung Sajudis die Bevölkerung rasch und beharrlich für die staatliche Unabhängigkeit mobilisiert werden konnte. Litauen erklärte im März 1990 seine staatliche Souveränität und den Austritt aus der UdSSR; eine Entscheidung, die auch von den litauischen Kommunisten unterstützt wurde.

Die sowjetische Führung versuchte zunächst, Litauens Unabhängigkeit durch eine wirtschaftliche Blockade zu brechen; im Jänner 1991 wurde angeordnet, die Kontrolle über die staatlichen Einrichtungen Litauens gewaltsam wieder herzustellen. Der Einsatz der 1974 gegründeten Sondereinheit "Gruppa A" (Alfa) des KGB während der "Januarereignisse" (11.-13. Jänner 1991) - unter dem Kommando von Michail Golowatow und Ewgenij Cudesnjow - war brutal und endete mit einem Massaker. Der Versuch, die Sezession mit militärischen Mitteln aufzuhalten, scheiterte; dies nicht zuletzt weil die sowjetische Führung darüber gespalten war.

Die Erinnerung an diese Blutnacht, das Gedenken an die ermordeten Demonstranten und die Erfahrung des gemeinsamen (zivilen) Widerstands sind zu einem identitätsstiftenden Band der litauischen Bevölkerung geworden.

Das erklärt, warum die Enthaftung von Michail Golowatow durch die österreichischen Behörden derart emotionale, bisweilen bizarre und irrationale Reaktionen in der litauischen Bevölkerung hervorruft. Die Anklage gegen Golowatow vor einem litauischen Gericht wird als unabdingbar erforderlicher Sühneakt für die Blutnacht angesehen. Die Enthaftung Golowatows verhindert nun aber nicht nur die Sühne; sie wird auch als Schmähung der Opfer angesehen, die unerträglich wird, weil die österreichischen Behörden angeblich willfährig auf russischen Druck reagiert hätten.

Diese Emotionen sind leicht zu mobilisieren, woran bestimmte Akteure der litauischen Innenpolitik auch durchaus Interesse haben. Die litauische Regierung wäre gut beraten, mäßigend auf die öffentliche Erregung einzuwirken; daran aber scheint sie kein Interesse zu haben. Rechtfertigungs- und Erklärungsversuche österreichischer Behörden werden in dieser aufgeheizten Stimmung kein Gehör finden.

Wie aber ist der Vorwurf zu bewerten, unser Land habe sich mit der Enthaftung russischem Druck gebeugt? Die angesehene russische Tageszeitung Kommersant zitiert einen Informanten des russischen Außenministeriums: "Im russischen Außenministerium ist man über den Ausgang dieser Angelegenheit erfreut. Durch unser Außenministerium und unsere Botschaft in Wien sandten wir Demarchen ab, mit denen den österreichischen Partnern erklärt wurde, die ,Causa Golowatow‘ werde politisiert. Diese (die österreichischen Partner, G. M.) hätten die Demarchen analysiert und die Schlussfolgerungen gezogen."

Die diplomatische Vertretung Russlands in Wien hat ihre konsularischen Aufgaben zum Schutz des russischen Staatsbürgers sicher nachdrücklich wahrgenommen; das ist auch ihre Aufgabe. Es wäre verwunderlich, wenn es sich dabei nur um Rechtsbeistand und technische Fragen gehandelt hätte. Es gibt keine Belege dafür, dass es auch inhaltliche Gespräche über die Substanz der Vorwürfe an Golowatow gegeben hat. Es ist aber nicht abwegig zu vermuten, dass die russische Seite deutlich gemacht hat, wie Moskau eine Auslieferung Golowatows an die litauischen Behörden bewerten würde.

Es ist also sehr wahrscheinlich, dass es politischen Druck Russlands gab; daran ist zunächst auch nichts auszusetzen. Es lässt sich aber nicht sagen, ob der Druck Russlands tatsächlich der Grund für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft war, Golowatow zu enthaften; ich wäre aber auch nicht überrascht, wenn es der russische Druck war, der letztlich zur Enthaftung führte.

Nach den vorliegenden Informationen waren die litauischen Behörden angeblich nicht in der Lage, der Staatsanwaltschaft Korneuburg ausreichende Dokumente zum Tatverdacht gegen Golowatow vorzulegen. Das ist erstaunlich; Litauen sollte doch in der Lage sein, ein rechtlich einwandfreies Dossier über den - nach litauischer Diktion - Kriegsverbrecher Golowatow umgehend vorzulegen. Allerdings ist es auch verwunderlich, warum die österreichischen Behörden den litauischen Stellen nicht die rechtlich zulässige Zeit eingeräumt haben, den Tatverdacht zu begründen. Das ist äußerst eigenartig und erklärungsbedürftig. Es ist zu verstehen, wenn dieses Verhalten Österreichs Misstrauen hervorruft; und das nicht nur bei litauischen Stellen.

Eine Offenlegung der litauischen Unterlagen wäre dringend geboten. Das ließe auch ein Urteil darüber zu, ob die litauischen Vorwürfe an Golowatow tatsächlich so vage waren, wie es die österreichischen Behörden behaupten.

Zulässig sind aber auch Überlegungen, ob Golowatow in Litauen eine unvoreingenommene Untersuchung der ihm vorgeworfenen Tatbestände erwarten könnte. Ein Strafverfahren gegen Golowatow in Litauen wäre sicherlich von einer außerordentlich emotionalisierten Debatte und erheblichem Druck auf die Gerichte begleitet. Die öffentlichen Reaktionen der litauischen Regierung und die bizarren Anschuldigungen und Vorwürfe, denen sich Österreich in der litauischen Öffentlichkeit ausgesetzt sieht, sind jedenfalls nicht dazu angetan, das Vertrauen in ein faires Verfahren für Golowatow zu stärken.

Abschließend ist festzuhalten, dass es durchaus im nationalen Interesse Österreichs sein kann, in Abwägung der Folgewirkungen einer Auslieferung zum Schluss zu kommen, Golowatow zu enthaften. Sollten derartige Erwägungen angestellt worden sein, ist jedoch die "handwerkliche" Ausführung der frühzeitigen Enthaftung bemerkenswert ungeschickt erfolgt. (Kommentar der anderen, DER STANDARD, Printausgabe, 22.7.2011)