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Große Runde in Straßburg.

Foto: REUTERS/Vincent Kessler

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Nach einem Teileinsturz der Parlamentsdecke mussten zwei Sitzungen 2008 außerplanmäßig nach Brüssel verlegt werden.

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Nicht nur am Straßburger Dom pfeifen es die Spatzen vom Dach, sondern auch drei Kilometer weiter flussaufwärts, wo das EU-Parlament tagt, hat der Wind sich gedreht. "Stressburg", wie die hübsche Stadt an der deutsch-französischen Grenze am Rhein von EU-Parlamentariern despektierlich genannt wird, könnte schon bald als Tagungsort ausgedient haben. Erstmals haben sich die Abgeordneten mehrheitlich für den Umzug in die europäische Kapitale Brüssel ausgesprochen. Und damit eine jahrzehntelange Diskussion, die sich mehr auf nationale Interessen denn auf pragmatische Gegebenheiten stützt, von Neuem losgetreten.

In einem offenen Brief werben Parlamentarier mehrerer Fraktionen, darunter die österreichische Grüne Ulrike Lunacek, bei der deutschen Kanzlerin Angela Merkel um Unterstützung. Bis zu 200 Millionen Euro kostet der Doppelsitz die europäischen Steuerzahler demnach pro Jahr. Nicht nur sie, auch die Umwelt zahle der tausenden, jeweils 500 Kilometer weiten Pendlerfahrten wegen pro Jahr drauf. 19.000 Tonnen CO2 könnten durch einen endgültigen Umzug eingespart werden, ließ der Vizepräsident des Parlaments, der britische Liberale Edward McMillan-Scott, errechnen.

Aber auch politische Gründe führen die Brüssel-Befürworter ins Feld: "Es ist doch demokratiepolitisch ein Problem, wenn wir als einzig direkt gewählte EU-Politiker nicht am gleichen Ort tagen, wo auch die Kommission zuhause ist", erklärt Lunacek im Gespräch mit derStandard.at.

Arbeitsplätze und Prestige

Neu ist der Vorstoß der Parlamentarier nicht. Die Niederlande und Großbritannien haben sich in der Vergangenheit öffentlich für Brüssel ausgesprochen. Bisher scheiterte der angedachte Exodus aus Straßburg am französischen Veto. "Das Problem ist, dass der Straßburger Sitz in den großen Verträgen der EU festgelegt ist, eine Änderung Einstimmigkeit verlangt und Frankreich diese verhindern kann", sagt Lunacek. Verständlich, dass Paris nicht nur politische Argumente in die Schlacht um Straßburg führt. Die Betten der 150 Hotels in der 270.000-Einwohnerstadt wollen belegt sein, 317 Menschen würden laut einer Studie ihren Arbeitsplatz verlieren, tausende Jobs in der Region hängen direkt oder indirekt an den Sitzungen der Volksvertreter.

Ulrike Lunacek will die Angst der Straßburger nicht teilen. Die Brüssel-Befürworter könnten sich demnach sogar vorstellen, der französischen Stadt auf Jahre hinaus weiter die Miete für die EU-Räumlichkeiten zu überweisen. "Das wäre immer noch billiger als jetzt."

Die historischen Gründe für den Sitz des Parlaments am früher blutig umkämpften Rhein, so die Straßburg-Gegner, sind im Europa der 27 allesamt obsolet. Machtteilung als Ausgleich zwischen den europäischen Großmächten Deutschland und Frankreich: dieses Konzept ist ihrer Ansicht antiquiert. Befürworter des geteilten Amtssitzes, etwa der deutsche CSU-Politiker Bernd Posselt, führen hingegen die Bedeutung Straßburgs als Symbol der europäischen Einigung an.

Während sich Ausschüsse und die Fraktionen des Parlaments seit jeher in Brüssel treffen und die Verwaltung von Luxemburg aus geschieht, müssen zwölf monatliche Plenarsitzungen laut Gesetzestext in Straßburg stattfinden. Ab 2012 45 statt bisher 48 Tage pro Jahr. Einige Millionen Euro Spesen sollen durch diesen Schritt schon einmal eingespart werden. Die französische Regierung klagt derzeit gegen diese Änderung. "Wenn diese Klage durchgeht, könnte es zum Aufstand kommen. Wir könnten zum Beispiel ganz einfach in Brüssel bleiben und uns weigern, für Tagungen nach Straßburg zu fahren", droht Lunacek. Vielleicht bringt der offene Brief Bewegung in die Angelegenheit, hofft die Grüne. Warum er gerade an die deutsche Kanzlerin gerichtet ist? "Deutschland hat sich bisher stets an die Seite von Paris gestellt, vielleicht können wir Angela Merkel jetzt umstimmen." (flon/derStandard.at, 20.7.2011)