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Proteste in Riga.

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Das T-Shirt ist in Lettland ein Hit. Nach Krisenursachen befragt, sagte Lettlands Finanzminister 2008: "Nichts besonderes". Seither ist der Spruch Kult.

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Wien - So sehen Staatsretter aus. Kurzer Haarschnitt, schlichte Brille, verschlossener Gesichtsausdruck. Der lettische Premier Vladis Dombovskis sitzt steif in seinem Sessel in einem der unzähligen Konferenzräume des EU-Ratsgebäudes in Brüssel. Es ist Ende Juni, wieder einmal EU-Gipfel, und wieder einmal dreht sich alles um Griechenland.

Für Dombovskis ist es ein leichtes Spiel. Lettland, vor kurzem noch am Rande der Staatspleite, hat die Wende geschafft. Der baltische Staat finanziert sich wieder über die Märkte. Die Ratingagenturen haben kürzlich die Bonität des Landes nach oben korrigiert. Der Premier erklärt einem japanischen Journalisten, was Athen von Riga alles lernen kann.

Freilich, der Preis war hoch. Dombovskis hat in seiner Amtszeit 39 der 59 lettischen Spitäler und 100 Schulen dicht gemacht. Er hat 23.000 Beamte gefeuert und das Land auf eine ökonomische Talfahrt geschickt. Lettlands Wirtschaftsleistung ist seit 2008 um 25 Prozent eingebrochen.

Griechenland kann sich warm anziehen. Denn Lettland gilt als letzter Strohhalme dafür, dass die Strategie der Eurozone in Hellas doch funktionieren könnte. Eine Art Blaupause für Staatenrettungen. Wer verstehen will warum, muss zum Beginn des lettischen Absturzes zurückkehren. Am Anfang stand das Ende. Oder fast.

Nach jahrelangen fulminantem Wachstum (2007: 10 Prozent) erwischte die Finanzkrise den baltischen Tiger am falschen Fuß. Lettlands Boom seit dem EU-Beitritt 2004 hatte vor allem auf Krediten ausländischer, allen voran skandinavischer Banken beruht. Das Leistungsbilanzdefizit, die Differenz zwischen eingeführten und exportierten Gütern und Dienstleistungen, betrug 2007 satte 21,4 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Als die ausländischen Geldquellen 2008 versiegten, kollabierte das System. Die Banken konnten sich nicht refinanzieren, die Sparer begannen, ihr Geld in Panik abzuheben. Die Regierung übernahm die strauchelnde Parex-Bank, das zweitgrößte lettische Kreditinstitut, für 2,80 Euro.

Bitte um Hilfe

Doch der Geldbedarf der Bank drohte das ganze Land zu ruinieren. Hinzu kam, dass Lettland sich am Markt kaum noch Geld beschaffen konnte. Riga bat um Hilfe: Im Dezember 2008 gewährten der Internationale Währungsfonds, EU, Weltbank und einige Staaten (Schweden, Tschechien) Lettland einen Notkredit in Höhe von 7,5 Milliarden Euro. Dabei kam Lettlands Besonderheit ins Spiel: Die Landeswährung Lats ist seit 2005 an den Euro gekoppelt. Das ist eine Vorbedingung für den Beitritt zur Gemeinschaftswährung. Der IWF riet Riga, seine Währung abzuwerten. Dadurch verteuern sich Importe, Exporte werden billiger - die Leistungsbilanz des Landes verbessert sich also rasch.

Doch die EU-Kommission (sie fürchtete eine Abwärtsspirale osteuropäischer Währungen) und die lettische Notenbank (sie schielte auf den Euro-Beitritt) widersetzten sich. Somit war Lettland der erste Staat in Europa, der wie Griechenland, Irland und Portugal eine interne Abwertung begann. Löhne wurden gekürzt, die Mehrwertsteuer von 18 auf 22 Prozent angehoben, der Staatsapparat durch eine Kündigungswelle verschlankt. Das Land fiel in die Rezession. Doch zugleich schrumpften die Staatsausgaben - das Defizit liegt heute mit 7,7 Prozent weit unter den IWF-Vorgaben. "Das Experiment war erfolgreich. Wir haben das Land stabilisiert", freut sich Premier Dombovskis im Standard-Gespräch. Tatsächlich wächst sogar die Wirtschaft inzwischen wieder.

Von der anderen Seite der Medaille weiß Eva Ikauniece zu berichten. Sie arbeitet für das Rote Kreuz in Riga. Gefragt nach den sozialen Kosten des Sparprogramms, zitiert sie als erstes eine Statistik: 2009, im ersten Krisenjahr, verteilte das Rote Kreuz an 39.000 Menschen Lebensmittelpakete. Heuer sind bereits 130.000 Letten von den Care-Paketen mit Milch, Mais- und Haferflocken abhängig, "allen voran Großfamilien, Pensionisten und Arbeitslose", erzählt Ikauniece.

Eine wirkliche Wende am Arbeitsmarkt ist nicht in Sicht. 16,2 Prozent der Erwerbstätigen haben keinen Job. Das ist mehr als doppelt so viel wie vor der Krise und die vierthöchste Rate in der EU. Noch schlimmer ist die Situation bei den Jungen: Jeder Dritte unter 25 hat keine Arbeit. Die lettischen Gehälter sind niedrig (Mindestlohn: 277 Euro) und von der niedrigen Arbeitslosenhilfe können viele kaum leben. Tausende haben das Land verlassen. Selbst Premier Dombovskis spricht von einem "beunruhigenden" Exodus.

Trotzdem loben EU-Politiker wie Währungskommissar Olli Rehn das "lettische Modell" immer wieder. Der Staat hat schließlich seine Währungsanbindung nicht aufgeben müssen. Ökonomen in Riga wie Vyacheslav Dombrovsky sind dagegen skeptisch: "Irgendwann endet jede Krise. Die Frage ist daher nicht, war die Strategie der Regierung und der EU erfolgreich, sondern waren die Kosten der Rettung zu hoch. Betrachtet man den gigantischen Wirtschaftseinbruch und die hohe Arbeitslosigkeit Lettlands kann ich nur sagen: Eine rasche Abwertung der Währung wäre für uns billiger gewesen". (András Szigetvari, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.7.2011)