Nur einzelne Häuser stehen noch in Rikuzentakata.

Foto: Standard/Koelling

Am Tag, als der Tsunami kam, hat Futoshi Toba alles verloren. Seine Frau, sein Haus, seine Stadt. Beinahe hätte es auch ihn erwischt, Kollegen zogen den Bürgermeister in letzter Sekunde auf das Dach des Rathauses. Von dort aus musste er hilflos zusehen, wie eine 14 Meter hohe Welle seine Stadt Rikuzentakata einfach fortspülte. Nur ein paar massive Betongebäude hielten den Fluten stand.

Dort, wo einmal Rikuzentakata war, ein Touristenort mit 24.000 Einwohnern, erstreckt sich nun eine baumlose Trümmerwüste. Die einst wohldefinierte Küstenlinie samt der bewaldeten Tsunami-Schutzdüne und dem Sandstrand existiert nicht mehr. Die Wellen des Pazifiks branden jetzt 200 Meter landeinwärts ans unbefestigte Ufer. Bagger schieben die Reste der Stadt zu Schuttbergen zusammen, Autowracks liegen herum. Das Land ist abgesunken, und Felder haben sich in Brackwasserseen verwandelt. Zwischen den Trümmern suchen Polizisten immer noch nach Leichen, in der Luft hängt ein Geruch von Fäule und Verwesung.

"Visionen sind gefragt"

In diesem Ort voller Trümmer und Trauer muss Toba nun eine neue Stadt, eine neue Gemeinschaft errichten. "Die Menschen brauchen Hoffnung", sagt er, ein schmächtiger Mann von 46 Jahren. Er sitzt in einem Notquartier und zeichnet mit kühnen Schwüngen seine Ideen auf einer Luftaufnahme der Stadt nach. Hier könnte die Hauptzugangsstraße verlaufen, auf einem Deich als Schutzwall gegen den Tsunami, dahinter soll die Stadt auferstehen. Bis zum Herbst will Toba seinen Wiederaufbauplan vorstellen. "Visionen sind gefragt", sagt Toba. "Wir brauchen Ideen, uns laufen die Menschen davon."

Das Leben ist immer noch schwer in der Stadt. Lange mussten die Einwohner zum Einkaufen, Tanken oder Arztbesuch in die Nachbarstädte fahren, denn der Tsunami hat alle Supermärkte, Tankstellen und Krankenhäuser weggerissen. Inzwischen ragt wieder eine kleine Nottankstelle aus der Trümmerlandschaft. Und in Containern wird ein bisschen Gemüse verkauft. Außerdem können die Evakuierten endlich in Notunterkünfte ziehen, die auf Schulgeländen errichtet wurden.

"Überall lagen Leichen"

Für die Menschen in Rikuzentakata fühlen sich diese kleinen Verbesserungen wie große Fortschritte an. Nach dem Beben war die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten. "Überall lagen Leichen herum und wir hatten nichts zu essen", erinnert sich Yoshinori Iwasaki, der sich um die evakuierten Senioren kümmert.

Der 37-jährige steht vor einer Mittelschule, die den Tsunami auf einem Hügel unbeschädigt ausgesessen hat. 1100 Menschen hatten hier Schutz gesucht, erzählt Iwasaki. In der ersten Woche gab es für jeden Flüchtling nur einen halben Reisball pro Tag zu essen, in der zweiten Woche zwei. Erst nach vier Wochen war die Versorgung wieder hergestellt. Es dauerte bis Mitte Juni, bis die ersten Evakuierten in Wohncontainer auf dem Schulhof ziehen konnten.

Kein Schutzwall würde das Wasser bremsen

Die Bewohner fürchten, dass ein neuer Tsunami selbst die Schule auf dem Hügel wegreißen könnte, weil kein Schutzwall und keine Stadt das Wasser mehr bremst. Der Bürgermeister spürt die Erwartungen der Menschen. "Die meisten wollen den Ort nicht verlassen", sagt Toba, der nur einen Monat vor dem Tsunami ins Amt gewählt worden ist. Das Symbol ihrer Hoffnung ist eine einzelne Kiefer, die den Tsunami überstanden hat. Die Stadt hat Poster gedruckt, die den Baum vor einer roten Sonne, dem Symbol Japans, zeigen. "Wir geben nicht auf, Rikuzentakata", steht darunter. (Martin Kölling aus Rikuzentakata, DER STANDARD-Printausgabe, 19.7.2011)