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Recht und Ordnung - mediale Vermittlung und gelebte Wirklichkeit klaffen auseinander: News of the World bediente sich der Polizeikontakte für Skandaljournalismus.

Foto: EPA/ANDY RAIN

In den vier Jahrzehnten, die seit der Watergate-Affäre um US-Präsident Richard Nixon vergangen sind, haben Politiker immer wieder die wichtigste Lehre aus diesem Skandal ignoriert: Vertuschen ist schlimmer als der Fehler selbst. Wie Nixon haben sie einen höheren Preis für das Verheimlichen ihrer Fehltritte bezahlt, als für letztere selbst.

Nun haben wir endlich einmal einen Skandal, der diese Regel bricht: die Telefonabhöraffäre in Großbritannien, die die britische Politik bis ins Mark getroffen hat. In den letzten zehn Jahren hat die Boulevardzeitung The News of the World, die Rupert Murdochs News Corporation gehört, die Anrufbeantworter von 4000 Menschen abgehört. Auf der Liste stehen nicht nur Angehörige des Königshauses, Berühmtheiten oder andere VIPs, sondern auch die Familien von in Afghanistan oder im Irak gefallenen Soldaten und von Opfern der Londoner Terrorattacken vom Juli 2005.

Der Fall Milly Dowler

All dies kam heraus, als The Guardian berichtete, dass The News of the World den Anrufbeantworter der vermissten 13-jährigen Milly Dowler abgehört hatte, offensichtlich in der Hoffnung, an private Äußerungen der Trauer oder Verzweiflung von Familienmitgliedern zu kommen, um sie auf der Titelseite zu veröffentlichen. Bis der Körper des ermordeten Mädchens sechs Monate später gefunden wurde, glaubte ihre Familie und die Polizei, sie könnte noch am Leben sein, da Mitarbeiter der Zeitung den vollen Anrufbeantworter immer wieder gelöscht hatten. (Scotland Yard zufolge besticht Rupert Murdoch auch Polizeibeamte des mittleren Dienstes, um an Informationen zu kommen.)

In der ereignisreichen Geschichte des Abhörens ist dies ein neues Kapitel. Nicht einmal Stalin hat die Toten abgehört.

Es folgte ein Vertuschungsversuch: James Murdoch, der Sohn von Rupert und Vorstandsvorsitzender des Europa- und Asiengeschäfts von News Corporation, veranlasste eine geheime Zahlung von einer Million Pfund (1,2 Mio. Euro), um das Schweigen abgehörter Opfer zu erkaufen. Angeblich wurden Millionen interner E-Mails gelöscht. Trotzdem kann man wohl sagen, dass die abstoßende Unmenschlichkeit der eigentlichen Tat schockierender bleibt als dieser oder irgend ein anderer Verschleierungsversuch.

Die politischen Konsequenzen der Abhöraffäre richten sich allerdings nicht nur nach den Ergebnissen der gerade stattfindenden offiziellen Ermittlungen, sondern noch nach weiteren Faktoren. In erster Linie werden die Folgen des Skandals davon abhängen, wie Regierungen und Bürger einschätzen, was News Corporation wirklich ist.

Die Murdochs bezeichnen News Corporation als journalistisches Unternehmen. Tatsächlich allerdings ist sie in erster Linie eine Unterhaltungsfirma, deren Hauptumsätze von den Film- und Fernsehsparten erwirtschaftet werden. Wichtiger noch ist die Funktion des Konzern als Propagandamaschine für politisch rechte Themen und Politiker.

In den USA geschieht dies hauptsächlich durch Fox News, einen Sender, der dafür bekannt ist, dass er unerbittlich für rechte Ideologien wirbt. Für politische Propaganda waren früher Regierungen und politische Parteien zuständig. Fox News ist formal unabhängig von diesen, unterstützt aber fast ausschließlich die Interessen der Republikanischen Partei der USA.

In Großbritannien hat News Corporation eine Art Staat im Staate aufgebaut - durch Korrumpierung der Polizei, Überwachung und Einschüchterung von Politikern. In den USA verhielt sich der Konzern ähnlich, indem er die Macht der Medien nutzte, um eine politische Einzelorganisation namens Tea Party aufzubauen.

All dies ist weit entfernt von dem, was eine journalistische Organisation tun sollte. Die vorwiegende Rolle des Journalismus in einer Demokratie besteht darin, Informationen über die Regierung, andere mächtige Institutionen, Bürgerbewegungen, internationale Ereignisse usw. zu liefern und damit Menschen zu helfen, ihre Rolle als Bürger auszufüllen. Aber News Corporation ersetzt solchen Journalismus durch Provokation und Klatsch, wie durch die Übernahme der 168 Jahre alten News of the World im Jahre 1984 und der anschließenden Umwandlung in eine Boulevardzeitung, und durch parteiische Kampagnen, wie bei der Gründung von Fox News 1996.

Es überrascht nicht, dass bei Fox News und vielen anderen Organen redaktionelle Unabhängigkeit rigider zentralisierter Kontrolle zum Opfer fällt. Nachrichten und Kommentare werden mit einem ununterbrochenen Strom politischer Kampagne vermischt. Ideologie triumphiert über Faktizität. Und führende Republikaner, darunter mögliche Präsidentschaftskandidaten der Partei, werden als "Kommentatoren" engagiert. In der Tat lag die besondere Genialität des Senders darin, Propaganda in öffentlichen und finanziellen Erfolg zu verwandeln.

Angesichts der Profitabilität von The News of the World würde es niemanden verwundern, wenn die Murdochs das verwerfliche Verhalten ihres gesunkenen britischen Flaggschiffs anderswo wiederholt hätten. Aber was auch immer noch enthüllt werden mag, der britische Abhörskandal steht mit der Verwandlung von Nachrichten in Propaganda auf einer Stufe: Beide sind ein Anschlag auf die für eine Demokratie entscheidende Trennung zwischen den Medien, dem Staat und den politischen Parteien. Die Murdochs verschmelzen diese Organe zu einer einzigen unberechenbaren Macht, die, wie in Großbritannien momentan sichtbar, keine Grenzen oder Skrupel kennt.

Italienisches Leiden

Dies sollte uns dazu bringen, einer unbequemen Realität ins Auge zu schauen, die sowohl dem britischen Abhörskandal mit seinem Zwielicht abstoßender Grausamkeit und schamloser Korruption als auch Fox News, dem populärsten Nachrichtenkanal der USA, zugrunde liegt: Zu viele Menschen wollen das haben, was News Corporation anbietet. Und was zu viele Menschen wollen, kann für einen zivilisierten Rechtsstaat gefährlich sein.

Wie gefährlich, zeigt das Beispiel Italien, wo das Konglomerat MediaSet von Premierminister Silvio Berlusconi seit den 1980er Jahren große Teile der Wählerschaft mit einer an Murdoch erinnernden Kombination geschmackloser Shows und parteiischem Politiktheater verführt hat. Nachdem das italienische Parteisystem der Nachkriegszeit in den frühen 1990ern kollabiert war, konnte Berlusconi seine eigene politische Partei gründen, Macht gewinnen und im Zuge dreier Regierungen Gesetze und Institutionen nach Belieben beeinflussen, um seinen geschäftlichen und persönlichen Interessen zu dienen.

News Corporation scheint Großbritannien und die USA in eine ähnliche Richtung führen zu wollen. Aber zumindest in Großbritannien ist nun die politische Klasse in Aufruhr. Premierminister David Cameron - der bislang gute Verbindungen zu Leitern von News Corporation pflegte und sogar den früheren Herausgeber von The News of the World, der für seine Rolle im Skandal verhaftet wurde, als Pressesprecher eingestellt hatte - nannte das Abhören der Telefone "widerwärtig".. Inzwischen haben führende Labour-Politiker, die bislang auch für die Gunst der Murdochs offen waren, geschworen, das Gebot von News Corporation zur kompletten Übernahme von Großbritanniens größtem Pay-TV-Sender zu blockieren. Ob die Rebellion auch den Atlantik überqueren kann, bleibt abzuwarten. (Kommentar der anderen, Jonathan Schell, Project Syndicate, 2011; aus dem Englischen von Harald Eckhoff/DER STANDARD; Printausgabe, 16./17.7.2011)