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Unternehmen, Organisationen, der Staat: Alle wollen schlank sein. Bei dieser "Diät" ist die Gefahr des "Verdurstens" für viele Menschen eklatant gewachsen.

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Manfred Krenn: "Wenn man die staatlichen Abläufe unter Effizienzkriterien durchorganisiert wie in einem privaten Unternehmen, fallen genau die gleichen Leute raus wie in der Privatwirtschaft."

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Die Zeiten haben sich geändert. Den Vollerwerbsjob von der Jugend bis zur Pension ist schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr, denn der Arbeitsmarkt ist flexibel geworden. Billig- und Teilzeitjobs, Arbeitslosigkeit und unbezahlte Praktika gehören für viele mittlerweile zur Erwerbskarriere. Auf dem Weg zu mehr Effizienz bei Unternehmen und Staat bleiben viele auf der Strecke, sagt Arbeitsforscher Manfred Krenn im Interview. Aber auch jene, die einen gesicherten Job haben, zahlen dafür einen hohen Preis.

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derStandard.at: Befristete oder geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbstständigkeit - wie flexibel ist der Arbeitsmarkt geworden?

Manfred Krenn: 30 bis 40 Prozent macht dieses flexible Arbeitsmarktsegment aus. In verschiedenen Branchen wie Handel oder Reinigungsgewerbe werden gerade an Personen mit geringer Qualifikation nur mehr ganz wenige Vollzeitverträge vergeben. In großen Handelsketten arbeiten fast 70 Prozent in verschiedenen Teilzeitformen, weil man diese mit den Öffnungszeiten sehr flexibel einsetzen kann.

derStandard.at: Gerade viele Frauen wollen ja auch Teilzeit arbeiten.

Krenn: Dafür sind das konservative österreichische Familienbild und die nicht vorhandenen Kinderbetreuungseinrichtungen verantwortlich. Ein nicht unbeträchtlicher Teil würde schon gerne Vollzeit arbeiten, bekommt aber im erreichbaren Umfeld keinen solchen Arbeitsplatz.

derStandard.at: Zurück zu den 30 bis 40 Prozent. Wenn ein so hoher Anteil immer wieder einmal arbeitslos wird mit allen Folgeerscheinungen, kostet das Staat und Wirtschaft Geld. Wie sieht die volkswirtschaftliche Rechnung aus?

Krenn: Dazu ist mir kein Modell bekannt. Aber hier muss man auch die Diskussion um den schlanken Staat, nach dem alle rufen, einbeziehen. Der Staat war es, der früher solche Leute zu vernünftigen Bedingungen beschäftigt hat.

derStandard.at: Was wäre ein gangbarer Weg?

Krenn: Wir untersuchen gerade in einer österreichischen Stadt den öffentlichen Dienst. Der Bürgermeister hat uns erzählt, dass eine Frau in seiner Sprechstunde einen Mietzuschuss beantragt hat, weil sie in einer Wäscherei trotz Vollzeitjobs zuwenig verdient. Das war für den Bürgermeister ausschlaggebend dafür, dass die Wäschereien für das Krankenhaus und die Pensionistenheime nicht nach außen vergeben wurden. Diese Stadt hat jetzt eine Zentralwäscherei eingerichtet. Der Bürgermeister hat sich gesagt: Bevor ich das auslagere, die Leute dann so wenig bezahlt bekommen, dass ich als Stadt wieder Beihilfe zahlen muss, beschäftige ich die Leute gleich selbst.

derStandard.at: Die Forderung nach einem schlanken Staat ist also ambivalent?

Krenn: Wenn man die staatlichen Abläufe unter Effizienzkriterien durchorganisiert wie in einem privaten Unternehmen, fallen genau die gleichen Leute raus wie in der Privatwirtschaft. Früher hat es in den Ämtern zum Beispiel die Aktenträger gegeben. Diese Leute findet man schlussendlich in der Sozialhilfe.

derStandard.at: Im Endeffekt sagen Sie, die Unternehmen sparen ein und bürden dem Staat mehr Kosten auf. Müssen Unternehmen auch einen Beitrag leisten?

Krenn: Natürlich. Da müsste mit Steuern oder auf andere Art und Weise regulierend eingegriffen werden. Dazu gehört auch das Thema Arbeitsmarkt für ältere Mitarbeiter. Wenn man mit 45 oder 50 arbeitslos wird, weil man aus der Sicht eines sehr effizient wirtschaftenden Unternehmens nicht mehr die Leistung bringt, dann kriegt man kaum mehr einen Job - unabhängig von der Qualifikation.

derStandard.at: Gleichzeitig wird das Pensionsantrittsalter hinaufgesetzt.

Krenn: Ja, viele Leute werden in diesem Alter ins Ausgedinge geschickt. Damit werden die Erwerbsverläufe immer löchriger. Weil der Arbeitsmarkt immer flexibler wird, haben viele Leute auch zwischendurch prekäre Jobs oder immer wieder Phasen von Arbeitslosigkeit. Das schlägt sich auf die lange Durchrechnungszeit nieder. Es ist absehbar, dass die Altersarmut weiter zunehmen wird. Denn das dritte Standbein der Pensionsvorsorge muss man sich auch leisten können. Es gibt nach wie vor gar nicht so wenige, die einen stabilen, gesicherten Job haben. Aber ein zunehmender Teil droht in die Armut abzurutschen. Diese Spaltung nimmt man viel zu wenig wahr.

derStandard.at: Auch heute spricht man doch von sozialer Sicherheit?

Krenn: Aber man meint damit etwas anderes. Heute spricht man nicht mehr von "Zweidrittelgesellschaft" wie vor zwanzig Jahren. Aber genau darauf steuern wir zu. Außerdem darf man nicht übersehen: Bei jenen, die einen Job haben, ist der Druck extrem gestiegen. Die Arbeit ist lange nicht mehr darauf abgestellt, dass man die 45 Jahre, die wir jetzt arbeiten sollen, ohne größere gesundheitliche Schäden auch durchhalten kann.

derStandard.at: Computer und Automatisierung erleichtern die Arbeit, heißt es doch immer?

Krenn: Das ist eine Fiktion. Die körperlichen Belastungen sind ungefähr gleich geblieben, die psychischen Belastungen haben extrem zugenommen. Die Arbeitswelt ist weit unwirtlicher geworden. Selbst jene, die in diesem gesicherten Bereich sind, zahlen einen hohen Preis dafür, dass sie dort bleiben können. Das Arbeits-Volumen hat zugenommen, die Personalbemessung ist immer äußerst knapp. Manager müssen eben vierteljährlich Zahlen vorlegen. Das Problem ist: Es hängt alles zusammen. Man stellt die Pensionssysteme um, sagt den Leuten, sie müssen für die Pension selbst vorsorgen. Diese zahlen in riesige Pensionsfonds ein, und die wiederum investieren in Unternehmen, die eben eine gewisse Rendite abwerfen müssen. Das führt wiederum dazu, dass das Management rationalisiert, um auf die Renditen zu kommen. Wenn man zynisch ist könnte man sagen: Die Leute werden gezwungen, über diese Pensionsvorsorge ihre eigene Rationalisierung anzustoßen.

derStandard.at: Die Angst vor dem Abstieg hat mittlerweile auch die Mittelschicht erfasst. Mit welchen Folgen?

Krenn: Viele denken: "Noch habe ich es gut, aber morgen könnte es mich erwischen." Das ist meiner Meinung nach auch einer der wesentlichen Gründe für den Wahlerfolg der FPÖ und die Lücke, dass niemand von den etablierten politischen Parteien diese Frage adressiert. Haider hat damals den Leuten das Gefühl gegeben, er ist der einzige in der Politik, der diese Probleme wahrnimmt. Dahinter liegt die steigende soziale Verunsicherung. Tatsächlich werden die Verlierer der Wettbewerbsgesellschaft gar nicht mehr wahrgenommen.

derStandard.at: Wie kann und soll dann in Zeiten wie diesen eine staatliche Arbeitsmarktpolitik ausschauen?

Krenn: Natürlich ist der Staat mit Kostenproblemen konfrontiert, das ist wieder eine Frage der Steuerpolitik. Aber die skandinavischen Länder haben rund doppelt soviele Beschäftigte im öffentlichen Dienst wie Österreich. Arbeitszeitverkürzung z.B. - davon redet keiner mehr - wäre etwa ein Weg, vorhandene Arbeit gerechter zu verteilen. Es fehlt an Vorschlägen, die den Kern der Probleme berühren, dazu gehört auch Sicherstellung einer hohen Qualität von sozialen Dienstleistungen wie Pflege. Es braucht einen politischen Konsens darüber, dass man bestimmte Tätigkeiten auf einem qualitativ hochwertigen Niveau zur Verfügung stellen, und dass man das Geld dafür dann auch auftreiben will.

derStandard.at: Die Finanzkrise hat uns ohnedies die Forderung nach mehr Staat gebracht, andrerseits kann sich der Staat genau aus demselben Grund das nicht leisten.

Krenn: Der Staat muss dann einspringen, wenn andere Mechanismen versagen - siehe Bankenkrise. Meiner Meinung nach ist die Lehre aus der Bankenkrise: Wenn man ein halbwegs verträgliches Sozialsystem haben will, sind Eingriffe unabdingbar. Ich sehe keine bemerkenswerten Schlüsse, die aus der Krise gezogen worden sind.

derStandard.at: Zu einem anderen Thema: Sie konstatieren äußerst hohe Lohn- und Einkommensdifferenzen zwischen den Branchen. 2007 war der durchschnittliche Bruttolohn in der Energiebranche fünfmal so hoch wie im Hotel- und Gastgewerbe. Die Pflegekräfte verdienen meist einen Hungerlohn für eine Leistung, die gesellschaftlich unverzichtbar ist. Verdienen die Falschen zuviel?

Krenn: Das ist eine Frage der Bewertung von Arbeit. Wir haben in Österreich eine gewisse Doppelbödigkeit. Auf der einen Seite haben wir im internationalen Vergleich hohe Deckungsraten, was die Kollektivverträge betrifft (fast 100 Prozent), aber das verschleiert, dass bestimmte Kollektivverträge so niedrig sind, dass es zu dieser hohen Lohnspreizung kommt, die es in anderen Ländern in dieser Form nicht gibt. Dazu kommt die starke Segmentierung nach Geschlecht. Die Pflege zum Beispiel ist ein typischer Frauenbereich, aber auch die Textilindustrie. Es gilt: Frauenbranchen werden extrem niedrig bezahlt, Männerbranchen extrem hoch. Internationale Konkurrenzkämpfe und Märkte spielen aber natürlich auch eine Rolle.

derStandard.at: Damit gilt die Pflegebranche auch als typischer Frauenbereich?

Krenn: Mit dieser 24-Stunden-Pflege-Regelung hat man zwar etwas legalisiert, aber zu Bedingungen, die sich sonst in Österreich niemand trauen würde je vorzuschlagen. Wir können quasi "froh" sein, dass es Menschen gibt, die darauf angewiesen sind, zu so geringen Löhnen zu arbeiten. Natürlich sorgt auch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik dafür, dass solche Jobs angenommen werden müssen.

derStandard.at: Vollbeschäftigung ist nicht in Sicht. Das heißt, der Nachschub für solche Billigjobs wird nicht so schnell ausgehen.

Krenn: Ja, gleichzeitig setzt diese aktivierende Arbeitsmarktpolitik - also die Drohung, das Arbeitslosengeld zu sperren oder zu kürzen, Abstiegsspiralen wie die folgende in Gang: Eine Frau wurde nach 22 Jahren als rechte Hand der Unternehmerfamilie in einem Groß-Handelsunternehmen wegrationalisiert. Sie hat dann einen Job an einer Tankstelle angenommen. Nach einer gewissen Phase der Arbeitslosigkeit akzeptieren die Leute eh, dass sie keinen gleichwertigen Job mehr bekommen. Damit sinkt dann auch die Arbeitslose. Viele landen dann in der Sozialhilfe, weil die Notstands- oder Arbeitslosenunterstützung so gering ist, dass sie eine Aufstockung auf den Richtsatz benötigen. Die Sozialhilfebezieherzahlen haben sich seit 1995 verdoppelt, und der größte Teil des Anstiegs ist auf solche so genannte Richtsatzergänzungen zurückzuführen.

derStandard.at: Der Staat erklärt sich also damit einverstanden, dass es Verlierer gibt auf dem Weg. Wird das für die öffentlichen Finanzen nicht ziemlich teuer?

Krenn: Der Erfolg der Sozialpolitik ist nur, wie die Leute wieder in Beschäftigung kommen. Ganz nach dem Credo, dass "jeder Job besser ist als keiner". Wie die Qualität ist, danach fragt keiner. (Regina Bruckner, derStandard.at, 13.7.2011)