Mit Robert Lepages "Le Dragon Bleu" wurde das Napoli Teatro Festival eröffnet.

Foto: Napoli Teatro Festival

Vietnam war mit dem Gastspiel "Secheresse et Pluie" (Trockenheit und Regen) vertreten.

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Auf dem Segelboot "Desdemona" brachen 25 Zuschauer gemeinsam mit "Jago","Otello" und "Emilia" zu einem anderthalbstündigen Törn im Golf von Neapel auf.

Foto: Napoli Teatro Festival

Der Müll ist verschwunden, und manchen geht er bereits ab. "Was habt ihr mit diesen wunderbaren Kunstwerken gemacht?", fragt Berufsprovokateur Oliviero Toscani, für ein Shooting zu Besuch, entsetzt.

Die Neapolitaner selbst vermissen die Berge von schwarzen Plastiksäcken naturgemäß nicht, sondern erhoffen sich, z.b. auch vom derzeit stattfindenden großen internationalen Napoli Teatro Festival einen raschen Imagewandel ihrer Stadt.

Eröffnet wurde mit Robert Lepages "Le Dragon Bleu". Der kanadische Regisseur (soeben erst mit "Far Side of the Moon" bei den Wiener Festwochen zu Gast) hat es gemeinsam mit seinem Team mittlerweile zu einer Meisterschaft gebracht, die schlicht und einfach sprachlos macht.

Unmerklichste Szenenwechsel, präziseste Lichtstimmungen, raffinierteste Toneinspielungen, verblüffendste Spezialeffekte. Und das alles aber mit einer scheinbaren Anstrengungslosigkeit und Leichtigkeit, dass man nach fünf Minuten aufhört sich zu fragen, wie denn das alles gemacht sei, und sich für den Rest des mit 1 1/2 Stunden Spieldauer (im Gegensatz zum ausufernden neunstündigen Lipsynch) kompakten Abends nur noch verzaubern lässt.

Das Schönste dabei, dass das Schauspiel nicht zu kurz kommt, sondern im Gegenteil alle drei Darsteller/innen (Henri Chasse, Marie Michaud, Tai Wei Foo) mit bewunderungswürdiger Intensität und Konzentration am Werk sind.

Und auch der Text selbst (von Lepage und Michaud) ist teilweise von hinreißender Komik. Warum es dabei "geht", ist wie immer bei Lepage, der ja in Bildern denkt, schwer nachzuerzählen. Die Themen sind jedenfalls Ost und West, Amerika und China, Maoismus und Kapitalismus, Dschunken und Hochgeschwindigkeitszüge, Kinderlosigkeit und Kinderkauf, Kunst und Kopie... Der Titel (Der blaue Drachen) bezieht sich auf eine schmerzhafte Tätowierung, das Stück selbst hingegen ist zwar ebenso bleibend, aber nur mit Glücksgefühlen verbunden.

Das vietnamesische Gastspiel "Secheresse et Pluie" (Trockenheit und Regen) war weitaus weniger elaboriert, darum aber nicht weniger eindrucksvoll. Die Choreographin Ea Sola hat jahrelang mit alten Bäuerinnen aus der Provinz Thai Binh über die lokalen Mythen, Gesänge und die Erinnerungen an den Krieg gearbeitet.

Strenge Bewegungsabläufe. Abgezirkelte Gesten. Seltsame Musik. Unerhörte Töne...

Gesichter wie Masken. Ein archaisches und tragisches Ritual, an dessen Ende sich die Münder der Frauen kollektiv zu einem Lächeln öffnen. Das stimmt einen dann aber auch nicht heiterer. Man fühlt sich vielmehr vom Tod angegrinst.

Eine Hauptattraktion des heuer zum vierten Mal (unter unter der neuen Leitung von Luca de Fusco) stattfindenden Festivals sind und bleiben die (selbst für Einheimische) unbekannten und überraschenden Spielorte, die sich hier entdecken lassen. Nach dem antiken Theater des Nero, dem Königlichen Armenhaus, dem Botanischen Garten, der Standseilbahn, den Luftschutzbunkern und den Dächern der Kunstakademie waren diesmal die prachtvollen Säle des Museo di Capodimonte, das aufgelassene Kinderasyl Falangieri, die klaustrophobischen Catacombe di San Gennaro und der weitlaüfige (Flucht-)Tunnel Borbonico an der Reihe.

Nicht zu vergessen das winzige Segelboot "Desdemona", auf dem 25 Zuschauer gemeinsam mit "Jago","Otello" und "Emilia" zu einem anderthalbstündigen Törn im Golf von Neapel aufbrachen. Eine bildermächtige (vielleicht besser für einen Film geeignete) Reduktion des Stoffs auf den Kampf zweier Männer mit sich selbst, miteinander, mit dem Wind und mit dem Meer.

Setzen wir das weiße oder das rote Segel? Entscheiden wir uns für die Liebe oder den Mord? Ist der Wind eine Frau? Ist das Meer eine Hure? Ist die Eifersucht eine Seekrankheit?

Am Höhepunkt ihres Streits schmeißen einander Otello und Jago von Bord. Die Zuschauer fallen zwar nicht ins Wasser, fühlen sich aber nach der Rückkehr in den Hafen ein wenig so als ob ... Eine Extremerfahrung. Nicht nur angenehm, aber nachhaltig, wie so vieles bei diesem Festival (das noch bis Oktober andauert). (Robert Quitta, derStandard.at, 13. Juli 2011)