"Die frischgebackene Innenministerin macht keinen Hehl daraus, Alltagsproblemen nur mit Law and Order begegnen zu wollen."

Foto: derStandard.at/mte

"Ich sage, Schluss mit kleinbürgerlicher Harmoniesucht und lasst uns streiten"

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"Ich bin nie betrunken gefahren, ansonsten habe ich aber in mehr als 20 Jahren mit meinem Rad unterwegs vermutlich so ziemlich gegen alles verstoßen."

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Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou beichtet: Sie hat mit ihrem Rad schon oft gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen, nur betrunken sei sie noch nie gefahren. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt sie, was hinter der aktuellen Schwerpunktaktion der Polizei gegen Radler steckt und was es mit den geplanten "Fairness-Regeln" auf sich hat. Die Verkehrsstadträtin verspricht ein merkbar billigeres Öffi-Jahresticket und spricht sich für weniger Empörung und mehr Gelassenheit aus.

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derStandard.at: Um pünktlich zum Interview zu kommen, sind wir mit dem Rad gegen die Einbahn und über einen Gehsteig gefahren. Werden Sie uns jetzt anzeigen?

Vassilakou: Anzeigen nicht, aber bravo sage jetzt ich auch nicht.

derStandard.at: Was war der Hintergrund der aktuellen Schwerpunktaktion gegen Radfahrer?

Vassilakou: Im Wesentlichen hat es mit einer frischgebackenen Innenministerin zu tun, die keinen Hehl daraus macht, Alltagsproblemen nur mit Law and Order begegnen zu wollen. Ich sehe keinen Bedarf für eine Aktion scharf. Aber es macht meiner Meinung nach viel Sinn, sich über den Umgang miteinander Gedanken zu machen. Strafen sollten in einer liberalen Gesellschaft grundsätzlich nur die ultima ratio sein.

derStandard.at: Stören die Wiener Radfahrer tatsächlich die Touristen, wie die Polizei meint?

Vassilakou: In Wien gibt es nicht genug Radverkehr. Wir sind bei mageren fünf Prozent. Mein zentrales Ziel für die nächsten fünf Jahre ist es, diesen Anteil zu verdoppeln. Das heißt es wird künftig viel, viel, viel mehr Radfahrer in Wien, so wie in anderen Großstädten auch, geben. Das Gebot der Stunde ist, die Straßenverkehrsordnung zu novellieren, so dass die Radwegebenutzungspflicht aufgehoben wird. Das bringt auch Entlastung für die Radwege.

derStandard.at: Bis wann ist das der Fall?

Vassilakou: Ich bin guter Dinge, dass das in den nächsten Monaten gelingen kann. Die Signale aus der Bundespolitik von SPÖ und ÖVP geben mir Hoffnung.

derStandard.at: Sie haben „Fairness-Regeln“ für Straßenverkehrsteilnehmer angekündigt. Welche davon sind besonders unfair unterwegs?

Vassilakou: Am unfairsten sind und bleiben als Alltime-Evergreen Autofahrer. Das hat mit dem Gefährdungspotenzial zu tun, das vom Auto ausgeht, das mit keinem anderen Verkehrsmittel zu vergleichen ist. Trotzdem halte ich nichts davon, hier eine Stigmatisierung in Gute und Böse vorzunehmen. Niemand von uns wird als Autofahrer oder Radfahrer geboren. Ein rücksichtsloser Autofahrer wird wahrscheinlich auch rücksichtslos Radfahren. Man muss nun mit Sensibilisierungsmaßnahmen versuchen zu erklären, dass durch rücksichtsloses Fahren, egal womit, eine massive Gefährdung stattfindet.

derStandard.at: Wie definieren Sie rücksichtslos?

Vassilakou: Drängeln und Schneiden ist zum Beispiel rücksichtslos. Auch bei Rot über die Kreuzung fahren ist gefährlich. Rücksichtslos ist man in dem Moment, wenn man vergisst, dass es Andere gibt und dass man diese Menschen damit ordentlich verletzen kann.

derStandard.at: Wieso sollten sich die Rücksichtslosen an sanktionslose Fairness-Regeln halten, wenn sie sich schon nicht an die Straßenverkehrsordnung halten, die sehr wohl Strafen beinhalten.

Vassilakou: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich Dinge ändern können – eben nicht durch Strafen oder dass an jeder Ecke ein Polizist steht. Sondern, dass man vielleicht über ein Aha-Erlebnis plötzlich begreift, dass die Art, wie man bisher gefahren ist, keine gute ist und jemanden anderen das Leben kosten kann. Am Ende ist es immer eine individuelle Entscheidung.

derStandard.at: Inwieweit haben Sie schon gegen die Straßenverkehrsordnung als Radfahrerin verstoßen?

Vassilakou: Ich bin nie betrunken gefahren, ansonsten habe ich aber in mehr als 20 Jahren mit meinem Rad unterwegs vermutlich so ziemlich gegen alles verstoßen. Ich bin ein stinknormaler Mensch, ich fahre nicht Rad mit dem Heiligenschein. Ich weiß aber genau, dass viele Probleme und Verstöße wegen zu enger Radwege, zu wenig Raum für Radfahrer und Wegbehinderungen entstehen. Und seit ich für die Verkehrspolitik in Wien verantwortlich bin, hat sich mein Verhalten geändert. Ich denke immer mit beim Fahren. An mich wird die Erwartung gerichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen. Zu Recht.

derStandard.at: Vor etwa einem Jahr haben Sie die Öffi-Jahreskarte für 100 Euro gefordert, als Sie im November Ihr Amt angetreten haben, haben Sie eine Tarifreform angekündigt – jetzt haben wir Juli.

Vassilakou: Es wird eine Tarifreform noch in diesem Jahr geben müssen. Auf der einen Seite müssen die Wiener Linien für die nächsten Jahre haushalten und wissen, mit welchen Einnahmen sie rechnen können. Auf der anderen Seite stehen wir Grüne. Wir sind angetreten, um Verbesserungen zu erreichen, etwa für finanziell Schwächere, für Jugendliche oder für Viel-Öffi-Fahrer. Es ist schwer, die Quadratur des Kreises zu erreichen. Deswegen dauern unsere Verhandlungen länger als wir gedacht haben.

derStandard.at: Wie wird die Tarifreform ausschauen?

Vassilakou: Mir ist wichtig, dass die Jahreskarte billiger wird. Ich will ein Signal setzen, dass nicht immer alles nur teurer wird. Es müssen diejenigen belohnt werden, die mit den Öffis häufig unterwegs sind.

derStandard.at: In welchem Rahmen bewegt sich der Preisunterschiede – sprechen wir von fünf Euro oder von einer deutlichen Reduktion?

Vassilakou: Ich meine merkbar billiger. Keine Alibiaktion.

derStandard.at: Es gibt zu viele Pendler, aber zu wenige nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel. In der Frage der Finanzierung des Ausbaus der Öffis zählen Sie auf Niederösterreich. Wird es hier jemals eine Einigung geben?

Vassilakou: Davon bin ich überzeugt. Auch Niederösterreich hat eine Klimabilanz vorzulegen und kämpft mit Stau und Abgasen. Niederösterreich gelangt zunehmend zu der Erkenntnis, dass der ständige Ausbau von Straßen nicht nur mit horrenden Kosten verbunden ist, sondern auch mehr Autoverkehr erzeugt. Das Gebot der Stunde lautet in effiziente Öffis zu investieren.

derStandard.at: Hier setzen Sie auf S-Bahnen, die in Metro unbenannt werden soll.

Vassilakou: Ich spreche von einem Metrosystem und einer Metropolenregion. Innerhalb dieser Metropolenregion muss ich eine optimale Integration von U-Bahn, S-Bahn, Straßenbahn und Busse erreichen. Als Gesamtsystem soll es als Einheit gesehen werden und auch so funktionieren. Wir sind mit dem Problem konfrontiert, dass wir im dicht verbauten Gebiet eine sehr gute Anbindung haben, aber in der Peripherie eine schlechte. Unter Metro verstehe ich, dass sich die S-Bahn in Richtung U-Bahn ähnlicher Intervalle entwickelt.

derStandard.at: Von der Idee der High-Speed-Straßenbahnen haben Sie sich verabschiedet?

Vassilakou: Nein, ganz im Gegenteil. Es geht darum Lücken zu identifizieren, die von der S-Bahn nicht bedient werden. In diesen Regionen sind High-Speed-Straßenbahnen, aber auch, wie in lateinamerikanischen Städten, ein Metro-Bussystem anzudenken. Ich halte zwar die Straßenbahn für das beste öffentliche Verkehrsmittel – sowohl in Bezug auf Beförderungskapazität als auch aus Sicht des Klimaschutzes. Am Ende muss man die Entscheidung zwischen Straßenbahn und Bus auch aus ökonomischen Überlegungen treffen.

derStandard.at: Zum Thema Bürgerinitiativen: War es als Oppositionspartei leichter diese zu unterstützen und sehen Sie sich jetzt mit der Realität konfrontiert?

Vassilakou: Nein, im Gegenteil. Als Regierungspartei ist es viel einfacher Bürgerinitiativen zu unterstützen. Als Oppositionspartei steht man gemeinsam mit der Bürgerinitiative an einer Seite des Zaunes und beklagt sich. Als Regierungspartei hat man die Möglichkeit sehr viel zu reparieren, aus dem Weg zu räumen oder Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Natürlich gelingt es nicht immer, das heißt, dass man auf Konflikte eingehen und aushalten muss.

derStandard.at: Gerade beim Augartenspitz, also beim Bau des Konzertsaals der Sängerknaben, ist es nicht gelungen. Die Bürgerinitiative zeigte sich enttäuscht von den Grünen.

Vassilakou: Das verstehe ich. Der Baubeginn im Augarten war aber noch bevor die Grünen in die Stadtregierung gekommen sind. Dass eine Bürgerinitiative, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen dieses unsinnige Projekt kämpft, nun schwer enttäuscht ist, kann ich nachvollziehen. Es ist mir allerdings nicht möglich, ein Projekt, für das es eine Baubewilligung gibt, eigenmächtig zu stoppen. Und es ist noch immer nicht vorbei. Jetzt geht es um ein wunderschönes Stückchen bewaldeten Park, das sich genau zwischen Halle und Sommerkino befindet. Ein Stück Urwald mitten in Wien, wo es Befürchtungen gibt, dass es auch den Motorsägen geopfert werden soll. Ich werde jeden Fleck innerstädtisches Grün verteidigen.

derStandard.at: Finden Sie alle Bürgerinitiativen sinnvoll und unterstützenswert?

Vassilakou: Es kommt wie immer darauf an, ob man sich mit ihren Anliegen identifiziert oder nicht. Aber alle verdienen respektvollen Umgang und dass man ihre Anliegen ernst nimmt. Alle verdienen es, dass man sich mit ihnen transparent und ehrlich auseinandersetzt.

derStandard.at: Auch die Bürgerinitiative Dammstraße, die sich gegen die Errichtung von Moscheen und den Ausbau der Moschee in der Dammstraße richtet?

Vassilakou: Ich unterstütze dieses Ansinnen nicht. Unter Transparenz verstehe ich, rechtzeitig zu informieren, einen offenen Dialog zu führen, sie ernst zu nehmen und auf sie einzugehen und nicht durch Zurückhaltung von Information zu hintergehen. Das ist der Umgang mit Bürgerinitiativen zu dem ich mich verpflichtet habe. Ich habe mich aber nicht dazu verpflichtet, jedes Anliegen umzusetzen.

derStandard.at: Wie ist die Stimmung in der Koalition auf einer Skala von eins bis zehn, und zehn das Beste ist?

Vassilakou: Ich vermute wie in jeder funktionierenden Zusammenarbeitsbeziehung. Irgendwo bei drei oder vier.

derStandard.at: Was sind die größten Reibungspunkte?

Vassilakou: Der Streit um das Garagenprojekt in der Geblergasse ist natürlich nicht stimmungsfördernd gewesen, aber ich möchte das Thema nicht auf die Stimmung reduzieren.

Es hat allen voran 600 Schülern und ihren Eltern wehgetan. Es hat alle daran erinnert, dass es in Teilen der SPÖ die Neigung gibt, in alte Reflexe und Verhaltensmuster zurückzufallen. Die Art und Weise, wie man die Schüler von der Befragung ausgeschlossen hat, das ist wirklich alles andere als die feine englische Art.

derStandard.at: Sollte es Rot-Grün auch auf Bundesebene geben?

Vassilakou: Eindeutig ja, aber die Frage ist, wann geht es sich endlich arithmetisch aus.

derStandard.at: Im derStandard.at-Forum werden die Grünen häufig als „Spaßbremsen“ bezeichnet. Trifft das zu?

Vassilakou: Die wahren Spaßbremsen sind nicht diejenigen, die auch einmal einen steilen Vorschlag bringen, sondern diejenigen, die in Daueraufgeregtheit und heilloser Empörung versinken, sobald sie etwas hören, das ihnen gegen den Strich geht. Ich sage, Schluss mit kleinbürgerlicher Harmoniesucht und lasst uns streiten.

derStandard.at: Sollte man sich nicht prinzipiell mehr empören, wie es auch der 94-jährige französische Autor Stephane Hessel fordert?

Vassilakou: Dauerempört, das verstehe ich unter einer ordentlichen Spaßbremse.

derStandard.at: Auch die Journalistin Anneliese Rohrer appelliert in ihrem neuen Buch an die Bevölkerung mehr als „Wutbürger“ aufzutreten.

Vassilakou: Empörung ist nicht die beste Ausgangslage, um Politik zu machen. Es geht darum, gelassen zu sein, lustvoll zu streiten und nachzudenken, auch mal über einen Vorschlag, den man eigentlich drastisch ablehnt. Was mir in Wien bei dieser Daueraufgeregtheit abgeht, ist die gute alte Diskussionskultur, wo man sich hart, aber substanziell austauscht. Die inflationäre Daueraufgeregtheit nervt nur und verstellt den Blick fürs Wesentliche. (derStandard.at, 12.7.2011)