Clemens Berger, geb. 1979 in Güssing, aufgewachsen in Oberwart, studierte Philosophie an der Universität Wien. Er lebt in Wien als freier Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm "Das Streichelinstitut" (Wallstein-Verlag, 2010).

 

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Thomas Stangl, geb. 1966 in Wien, studierte Philosophie und Hispanistik. Sein erster Roman "Der einzige Ort" erschien 2004. Stangl gewann den Erich-Fried-Preis 2011. Er lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt erschien "was kommt" (Droschl, 2009).

 

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Margit Schreiner, geb. 1953, lebt seit 1983 als freie Schriftstellerin, nach Aufenthalten in Paris, Berlin und Italien seit dem Jahr 2000 wieder in Linz. Am 8. August erscheint ihr neuer Roman "Die Tiere von Paris" (Schöffling-Verlag, 2011).

 

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Christa Nebenführ, geb. 1960 in Wien, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie studierte Philosophie bei Rudolf Burger, verfasste zahlreiche Essays und Radio-Features. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Blutbrüderinnen" (Milena-Verlag, 2006).

 

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Ist er ein hitziges Wunschbild? Die Erinnerung an eine erste Italienreise mit 18? Was denken wir über Südländer, die nur auf der faulen Haut liegen und von Luft und Liebe leben?    Vier Annäherungen - von Clemens Berger, Christa Nebenführ, Margit Schreiner und Thomas Stangl.

Der Idiot und der Süden
Von Clemens Berger

Die Griechen, sagte unlängst ein Idiot, hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Ich wäre ihm gern an die Gurgel gegangen, wartete aber ab, verkniff mir die Frage, wer über welche Verhältnisse gelebt hätte, der Idiot war in seinem Element. Die Griechen, stellte der Idiot fest, gingen zu früh in Pension, zu oft in Krankenstand, arbeiteten zu wenig, und alles nur, weil sie sich auf eine jahrtausendealte Kultur beriefen, aus der sich ihre Arroganz speise. Jedes Mal, wenn der Idiot "die Griechen" sagte, verzerrte sich sein Gesicht. Man sah, wie der Idiot darunter litt, der Idiot zu sein, der er ist.

Alles, was der Lumpenbürger dem Griechen und denen aus dem Süden generell übelnimmt, dass sie auf der faulen Haut liegen, mittags schlafen, das mit der Arbeitsmoral nicht so ernst nehmen, von Luft und Liebe leben, und so weiter und so fort, nimmt er ihnen übel, weil er gern wäre, wofür er den anderen hält: ein potenzieller Müßiggänger, die Hände im Nacken verschränkt, der arbeitet, um zu leben, und nicht umgekehrt. All die Inhibitionen, all die Versagungen und Unterwerfungen zeichneten sich in das Gesicht des Idioten, als er über jene sprach, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten, während er sich für die dicke Uhr über dem Handgelenk und den neuen Wagen plagen musste. Alle Träume, die er vielleicht einmal hatte, muss er vor sich selbst verstecken, Glück kennt er nur in Zusammenhang mit Lotteriegewinnen, und die Frau, die ihm gefällt, spricht er doch nicht an - oder erst, wenn er in einem Zustand ist, in dem er nicht mehr infrage kommt. Da sind die Männer aus dem Süden anders, sprechen von Herzflimmern und schönen Augen, stehlen Rosen, singen und tanzen, was den Idioten erschaudern lässt, weil er für all das zu steif ist, abgesehen von dem Zustand, in dem er es auf einmal nicht mehr zu sein meint. Männer wie er fliegen nach Thailand oder Kuba, wenn sie es sich leisten können, Frauen wie er, wenn es das gibt, nach Nordafrika oder Jamaika, um sich einen echten Mann zu kaufen. Einen südlicheren.

Eigentlich, fuhr der Idiot fort, müssten uns die Griechen den Urlaub verbilligen, Hotels, Flüge, Essen und Trinken - immerhin bezahlten wir dafür, dass sie nicht längst ihre Gürtel enger geschnallt hätten. Der Idiot hatte viele Löcher im Gürtel; ihn enger zu schnallen, hätte ihm die Luft geraubt, nur sein Übergewicht stammt vom Frust, während jenes der Griechen von der Lust kommen muss. Während er sich Ersteres nur in schwachen Momenten eingesteht, ist ihm Letzteres so gewiss wie die Überlegenheit, die daher rührt, dass er sich versagen muss, was die Griechen und die aus dem Süden in seiner Vorstellung genießen. Der Idiot mag Italien nicht, obwohl er gern zum Italiener geht und "grazie" sagen kann, weil die Italiener ständig streiken. Er streikt doch auch nicht, höchstens gegen sich selbst, bloß das gesteht er sich ungern ein. Die Griechen, sagte der Idiot deshalb, und er sagte es durchaus selbstbewusst, sagte es mit dem Recht dessen, der im Recht ist, weil er ahnt, nicht allein seines eigenen Unglücks Schmied zu sein, sollten arbeiten, statt zu streiken. Sollte er zu ihnen auf Urlaub fliegen, erwartet der Idiot allerdings, was er seinen Standard nennt, Dienstleistungen, die tatsächlich an ihm geleistete Dienste sind. Den Buckel, den er täglich macht, will er im gleichen Winkel zurück, wenn nicht etwas tiefer.

Es ist Anfang Juli und kalt, ich rufe eine Freundin in Berlin an. "Scheußliches Wetter", sagt sie, "in Wien auch", sage ich. Nach einer Stunde fragt sie, was ich noch vorhätte an diesem Sonntag, der keiner ist. Ich müsse etwas über den Süden schreiben, vielleicht hätte ich deshalb eine Neapolitanerin angerufen. Wenn ich im Süden bin, sage ich, könnte ich schreiben, wird meine Haut dunkler und mein Haar heller, ich bin sozusagen ein sonnenabhängiges Chamäleon. Was für ein Thema, sagt sie. Also, will ich wissen, was ist der Süden, in einem Satz? Ein Körpergefühl, sagt sie nach einer kurzen Pause, das sich immer wieder einstellt - und das Gefühl, nicht dazuzugehören, weiter nördlich. Nach dem Auflegen sehe ich den Idioten vor und den Süden in mir.

Wilder und unwirtlicher
Von Thomas Stangl

In alten Texten aus dem islamischen Raum wird die geografische Ordnung der Welt beschrieben. Im Zentrum, dem Reich des Islam, herrschen, dem gemäßigten Klima entsprechend, zivilisierte Sitten; je weiter man sich nach Norden in die Kälte oder nach Süden in die Hitze hinein bewegt, desto unnatürlicher werden die Hautfarben der kreideweißen oder tiefschwarzen Bewohner und desto barbarischer werden die Verhältnisse. Die Christen im Norden essen Schweinefleisch, manche behaupten, sie würden auch ihre Sklaven schlachten; die Schwarzen in Afrika essen Mäuse und Hunde, und in den dichten Wäldern jenseits der Wüsten soll es Menschenfresser geben. Spätere Reisende fanden diese Menschenfresser nie, bekamen jedoch immer wieder von den befragten sogenannten Eingeborenen bestätigt, dass es sie gäbe: dort, wo die Wälder undurchdringlich sind, bei den Götzendienern weiter im Süden.

Hinter dem deskriptiven geografischen Koordinatensystem verbirgt sich ein anderes, weniger unschuldiges. Wir haben mit den alten arabischen und persischen Autoren gemeinsam, dass wir uns im Zentrum der Welt glauben; dort, wo es zivilisiert zugeht und man der Natur des Menschen (oder der Marktgesetze) entsprechend lebt. Gleichzeitig treibt uns eine seltsame, mit Angst durchsetzte Sehnsucht dorthin, wo unsere Gesetze nicht gelten, in Gegenden, die uns wilder und unwirtlicher oder aber paradiesisch frei erscheinen, in den Süden.

Jedes Vorurteil über den fantasierten Süden beinhaltet ein Wunschbild; in jedem Wunschbild versteckt sich eine Angst. Du kannst über die faulen Südländer, Griechen, Portugiesen, Afrikaner schimpfen, und du kannst in den Süden reisen, um dich in Meer und Hitze aufzulösen und zu vergessen, wer du bist. Dieses Wesen mit Beruf, Kreditkarte, Steuernummer, das durch 20 verschiedene PIN-Codes die Kontrolle über alle Aspekte seiner Existenz gesichert hat.

Aber was, wenn du dir in der Freiheit nur fremd wirst, wenn dir die erträumte Faulheit zur Leere wird, wenn du in deiner Leichtigkeit davonfliegst? Deine kreideweiße Haut läuft rot an, du beginnst den Kellnern und Taxifahrern zu misstrauen, zählst dein Geld. Und gleichzeitig ahnst du immer wieder etwas; als könntest du ein zweites Leben führen, faul, verantwortungslos, beinah namenlos. Die Befreiung von der Zivilisiertheit setzt nur andere Regeln frei: vielleicht sind wir wirklich im Zentrum der Welt, des Fortschritts, oder jedenfalls noch einigermaßen nah an diesem Zentrum, und was für uns Süden ist, besteht aus älteren, fremd gewordenen, verlorengehenden Gebräuchen und Möglichkeiten zu leben.

Ihre Andersheit, ihr Reiz und ihr Befremdliches beruhen darauf, dass sie uns aus dem Vergangenen her anschauen. Machen wir einen kleinen Sprung ans andere Ende der Welt.

Das Wort Sur, Süden ...

In argentinischen Tangos wird das Wort Sur, Süden, so sehnsuchtsvoll dahergehaucht, dass man kurz innehalten muss, um sich klarzumachen, dass der argentinische Süden eine Art Norden ist: kalte, windige, dünnbesiedelte Ebenen. Mit diesem Süden scheint sich dennoch eine ähnliche Imaginationswelt zu verbinden wie mit dem unseren, Vorstellungen von Weite und Freiheit; archaischere Regeln, die hier herrschen würden, unter dem riesigen Mond und dem "cielo al reves", dem umgekehrten Himmel, von denen im Tango Vuelvo al sur die Rede ist.

Jorge Luis Borges träumte in seiner Bibliothek in der Hauptstadt von diesem Süden, den er sich von stolzen Messerstechern bewohnt vorstellte. In seiner Erzählung El sur verunglückt der Held, ein Bibliothekar aus der Hauptstadt, auf haarsträubend banale Art, indem er beim Treppenhochlaufen ge-gen einen offenen Fensterflügel kracht; während er in der Klinik seiner Verletzung erliegt, flüchtet er in seiner Vorstellung, ganz ordentlich per Bahn, in jene "ältere und festere Welt" des argentinischen Südens, wo er auf einer etwas anderen Art von Ferienreise ein zweites Leben führen und einen zweiten, weniger banalen Tod finden wird, ein wirkliches Leben und einen wirklichen Tod, wie sie vielleicht nur in der Imagination zu finden sind. Er kann sich "einbilden, er fahre in die Vergangenheit, nicht bloß in den Süden", und würde nach einem Streit in einer Schänke als freier Mann in einem Messerkampf (für den ihm naturgemäß jegliche Eignung fehlt) sterben: wegen lächerlicher alter Ehrenregeln, in einem Fest.

Mittlerweile sind, nach Staatspleite und sogenannter Marktöffnung, in den weiten windigen Ebenen Argentiniens an die Stelle von Rinderherden und Messerstechern endlose Felder mit Gensojapflanzungen getreten; noch weiter im Süden, in Patagonien soll aber immerhin noch eine wunderbar unnütze Leere vorherrschen. Vielleicht verlangt die Normierung der Welt eine Abschaffung der Himmelsrichtungen: Wie die von Reisenden befragten Afrikaner die erwünschten schrecklichen Menschenfresser immer noch etwas weiter im Süden ansiedelten, so haben Osteuropäer seit zwanzig Jahren den Osten (als stünde die ganze Himmelsrichtung für Rückständigkeit und Despotie) immer erst bei den jeweiligen östlichen Nachbarvölkern beginnen lassen wollen; mittlerweile gibt es bekanntlich in Europa gar keinen Osten mehr, nur noch einen ehemaligen Osten.

Mag sein, dass zum ehemaligen Osten bald ein ehemaliger Süden dazukommt, dem das Südliche ausgetrieben ist, alles uns roh und lässig Erscheinende, das sich mit Sparzwang schlecht verträgt. Die Imagination sucht das Weite und verkriecht sich in ihre Nischen.

Träume von ganz unten
Von Margit Schreiner

In der Volksschule war das so: Eine Landkarte wurde an die Tafel gehängt: Oben war Norden, unten Süden, links Westen, rechts Osten (Merkhilfe: WO). So hat es sich mir eingeprägt, und so denke ich intuitiv an die Welt: oben, unten, links und rechts. Meine Eltern sagten: Wir fahren dieses Jahr nach Essen (Ruhrgebiet) hoch. Meine Cousins sagten: Diese Ferien kommen wir nach Österreich runter. Meistens fuhren wir aber mit meiner Tante Fini nach Riccione, Rimini, Lignano, Grado oder Caorle runter.

Heute trage ich eine große Casio-Herrenarmbanduhr (meine Freundin Patricia sagt: Das ist ein SIGN) mit Kompass. Wenn ich jetzt zum Beispiel an meinem Schreibtisch sitze, meinen linken Uhrarm anwinkle und auf den Kompassknopf drücke, kreisen Strahlenbündel wie vier Ventilatorenblätter wild um das Ziffernblatt. Oben, in einem kleinen hellgrünen Sektor, steht: SW, darunter in großen Ziffern (für Weitsichtige?) 223 Grad. Bewege ich den Arm etwas nach links, steht da SSW 213 Grad; gehe ich ein paar Meter vom Schreibtisch auf meine Terrasse, steht SSE 153 Grad. Ich vergesse immer wieder, was genau das alles bedeutet.

Es zieht mich nach unten

Tatsache ist, dass es mich, wie die meisten Mitteleuropäer, immer wieder nach Süden gezogen hat, egal jetzt ob SW, SSW, SSE: Ich plane zwar nach oben (Schweden, da besonders Schonen, Norwegen, die Fjorde, Finnland, Island, die Lofoten etc.), aber es zieht mich nach unten!

Nun es gibt aber viele Unten, das muss der Mensch spätestens nach der Volksschule bitter erlernen, es gibt unten und viel weiter unten und ganz unten. Nach ganz unten hab ich es noch nicht geschafft. Mein bis jetzt tiefstes Unten war Marokko. Dort bin ich mit einem Überlandbus in die Wüste gefahren, alle dreißig oder vierzig Kilometer war eine Militärkontrolle, bei der nur ich als einzige Touristin aussteigen musste, etwa zwanzig Meter in die Wüste zu einem dunklen Verschlag gehen, in dem Militärs im Schein einer Kerze meinen Pass studierten und mich fragten, wieso ich (damals 32 Jahre alt) keine Kinder hätte. Schließlich bin ich irgendwo in einem Dorf ausgestiegen (die Wüste reichte bis zum Meer, und viele Kilometer landeinwärts lagen gestrandete Schiffe), in dem ich dann zwei Wochen lang festsaß und fast nicht mehr zurück nach Marrakesch gekommen wäre. Aber egal. Es kommt letztlich nur auf den Standpunkt an. Von einem anderen Standpunkt aus gesehen war ich sehr weit im Süden: Kyushu, Mindanao, Bangkok, Seoul, Singapur.

Was den Süden auszeichnet, ist unsere Sehnsucht nach Wärme, üppiger Vegetation, süßen Früchten, Siesta und einem stressfreien Leben. Daran ändern weder Mafia noch Kriege noch Genozide etwas.

Dieses Jahr fahre ich erst im September nach unten in den Süden. Wieder nicht ganz nach unten. Nur relativ nach unten. Bis dahin habe ich zu tun. Aber ich habe mein Arbeitszentrum auf die Terrasse verlegt, von meinem Schreibtisch aus: SSE 153, was immer das bedeuten mag. Da sie aber nicht nur meinem Kompass, sondern auch dem Bauplan meiner Wohnung zufolge nach Süden ausgerichtet ist, ist es dort immer warm, die von mir gepflanzten Schling- und Kletter- und Blühpflanzen haben sie fast zugewuchert. Wenn ich am Laptop schreibe, kitzelt mich ein aus seinem Blumenkasten explodierender Asparagus im Nacken. Ich lese im Liegestuhl zwischen Schwarzäugigen Susannen (sie klettern beinahe täglich ein großes Stück von der Terrassenbalustrade über das Netz, das die Katzen von ihrem Weg auf das Dach abhalten soll, bis hinein in den Himmel) und Rittersporn. Meine süßen, saftigen Früchte (im Moment Erdbeeren und Wassermelonen) esse ich zwischen Wüstenrose und bereits baumartig hohem Rhododendron (auf meiner Terrasse vertragen sich Oben und Unten). Im Sommer arbeite ich stressfrei. Nach längstens drei Stunden Arbeit spanne ich meine Hängematte auf, liege dort, esse süße Früchte und träume davon, einmal ganz, ganz unten zu landen.

"American Girl in Italy"
Von Christa Nebenführ

Elvira und ich waren noch nicht ganz 18, als wir zum ersten Mal allein Richtung Süden fuhren. Wir begannen mit Italien. Im Zug wollte sich eine von uns beiden eine Zigarette anstecken, aber die andere wies sie auf das Rauchverbot hin. Während die Zigarette brav in die Schachtel zurückwanderte, gestikulierte ein mitreisender Italiener wild in unsere Richtung, dass dieses Schild nichts, aber auch rein gar nicht zu bedeuten hätte.

Erst da fiel uns auf, dass der Boden des Abteils mit Zigarettenkippen übersät war. Nach dem Sommer 1978 mussten wir uns wieder daran gewöhnen, Rauchverbote und Verkehrsampeln zu beachten, Zigaretten in der Trafik statt von fliegenden Händlern zu kaufen, den Wein zu bezahlen, den wir bestellt hatten, vor allem aber, über Plätze zu gehen und Lokale zu betreten, ohne im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

Wie es heute ist, als Mädchen durch Italien zu reisen, weiß ich nicht, denn mittlerweile kann ich völlig unbeachtet durch italienische Städte flanieren, was, wie ich zugeben muss, auch seine angenehmen Seiten hat.

Die erste unbegleitete Reise

Als Ruth Orkin am 22. August 1951 vormittags über die Piazza della Repubblica in Florenz schlenderte, war sie 29 Jahre alt. Auch sie hatte mit 17 ihre erste unbegleitete Reise gemacht und 1951, während ihrer Fotoreportage über die israelischen Philharmoniker, war sie schon eine anerkannte Fotografin. Danach sah sie sich noch London, Paris, Rom, Venedig und Florenz an, wo sie im Hotel die amerikanische Kunststudentin Jinx Allen kennenlernte, die auch allein unterwegs war.

Auf der Piazza della Repubblica drehte sich Ruth Orkin um und fotografierte Jinx Allen, die hinter ihr ging. Dann bat sie sie, noch einmal dasselbe Wegstück entlangzugehen und diese zweite Aufnahme sollte unter dem Titel American Girl in Italy weltberühmt werden.

Vom Caffetteria-Tisch, vom Vespa-Roller, aus der Mauernische, von der Bordkante aus starren gezählte fünfzehn Männer, vom Halbwüchsigen bis zum Rentner, mit unverhüllter Begeisterung auf die junge Frau in den flachen Ledersandalen, mit dem wadenlangen Rock und den bedeckten Armen.

Einer von ihnen pfeift ihr nach. "When you travel alone ... tips on money, men, and morals" hieß der Artikel, der daraufhin 1952 in der Cosmopolitan erschien. 2010 fand das Bild als Umschlag zum Erzählband Frauen! Starke Erzählungen über das starke Geschlecht des Septime-Verlages Verwendung.

Der Ort, aus dem ich komme, ist der Nabel meiner Welt. Im Norden kann ich kühlen Kopf bewahren. Im Süden liegen Afrika, Australien und ein guter Teil Asiens. Aber die meine ich nicht.

Ungefähr in dem Alter, in dem Ruth Orkin die Piazza della Repubblica fotografiert hat, schlenderte ich mit Orlando, den ich immer wieder nötigte, einen Arm zu heben, um mich unter seiner Achsel zu vergewissern, dass sein Teint nicht von der Sonne herrührt, in Santiago de Cuba die Enramada entlang.

Auf einmal blieb er vor einer Auslage stehen, um mir eine Sonnenbrille zu zeigen, die er sich wünschte. Und während er, weil mir daraufhin ein Lachen entglitt, schluchzend zusammenbrach, flüsterte Sonja, der ich hiermit eine späte Reverenz erweisen möchte: "Latinoschmoiz".  (DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.7.2011)