Demonstratives Einvernehmen, das immer mehr der Realität widerspricht: Dmitri Medwedew und Wladimir Putin auf einem Transparent beim Jugendlager am Seligersee.

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Gleb Pawlowski (60) ist Chef des Moskauer Thinktanks „Fonds für effektive Politik“. Als Berater der Kremladministration, also von Präsident Medwedew, wurde er kürzlich entlassen – nach eigenen Angaben, weil er Premier Putin und dessen Partei Einiges Russland kritisiert hatte und Medwedew als Kandidaten für die Wahl 2012 unterstützt. Aus dem Kreml heißt es inoffiziell, man sei mit Pawlowskis Arbeit nicht mehr zufrieden gewesen. Pawlowski sprach jüngst in Wien in der Masterclass des EU-Russland-Thinktanks Iceur.

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Der russische Präsident Dmitri Medwedew und Premier Waldimir Putin sind in einen Machtkampf mit ungewissem Ausgang geschlittert, sagt Kreml-Insider Gleb Pawlowski im Gespräch mit Josef Kirchengast.

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STANDARD: Wer wird 2012 nächster Präsident Russlands: Dmitri Medwedew oder Wladimir Putin?

Pawlowski: Nach meiner Einschätzung ist die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder Medwedew wird, auf 40 Prozent gesunken. Aber gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Putin wird, nicht gestiegen. Es ist eine unbestimmte Zone entstanden. Das führt zu Unsicherheit bei den Verwaltungs- und Wirtschaftseliten. Sie (Medwedew und Putin) verhalten sich, als würden sie die Zukunft zur Gänze kontrollieren, aber de facto wird die Kontrolle immer weniger.

STANDARD: Anfangs schien das ein inszeniertes Spiel mit verteilten Rollen. Inzwischen hat man aber den Eindruck eines Machtkampfes. Warum ist es außer Kontrolle geraten?

Pawlowski: Beide Thesen sind falsch. Am Anfang war es keine Inszenierung. Inzwischen ist es eher der Verlust des Gleichgewichts im Tandem. Jeder der beiden begann dem anderen Pläne zuzuschreiben, die dieser gar nicht hatte. Ich kann mir vorstellen, dass Putin glaubt, Medwedew wolle ihn als Premierminister absetzen. Es ist ein unausgesprochener Verdacht, und Putin begann sich zu verteidigen. Medwedew war irritiert, begann sich über Putins Verhalten aufzuregen, und dadurch hat er dessen Handlungen weiter verstärkt. Das ist wie in den Stücken von Sartre und Anouilh, wo die Menschen in einem Zimmer eingesperrt sind und einander Schritt für Schritt verrückt machen. Das Tandem ist zu einem solchen geschlossenen Raum geworden, und nur deshalb, weil die üblichen politischen Probleme nicht erörtert werden.

STANDARD: Sie bezeichnen sich nach wie vor als einen Putinisten und waren maßgeblich am Aufbau der sogenannten gelenkten Demokratie in Russland beteiligt. Inzwischen scheint das aber nicht mehr zu funktionieren, weil die erhoffte Stabilität schwindet.

Pawlowski: Ich stimme darin zu, dass wir diese Stabilität heute nicht haben. Dieses System wurde allerdings nicht für die Ewigkeit aufgebaut. Es sollte ein vorübergehendes, provisorisches Regime sein: als Instrument für den Aufbau der Demokratie in einem Land, wo es nie zuvor eine Demokratie gegeben hat. Aber wie man in Russland so schön sagt: Die beständigsten Lösungen sind immer die Provisorien.

STANDARD: Eine stabile Demokratie lebt von anerkannten Institutionen, sei es ein pluralistisches parlamentarisches System, sei es eine unabhängige Justiz. Das gibt es in Russland offensichtlich nicht. War es nicht der Hauptfehler zu meinen, eine populäre und weithin anerkannte Person wie Putin könne das alles ersetzen, sozusagen allein abdecken. In Krisen zeigt sich, dass das nicht funktioniert.

Pawlowski: In Russland gibt es sehr vieles nicht. Es ist nur die Frage, was in höherem Ausmaß fehlt und womit man beginnen soll beim Aufbau dieser Institutionen. In der russischen Kultur gibt es überhaupt keinen positiv besetzten Begriff für Gericht. Im Kompendium der russischen Sprichwörter und Redensarten findet man kein einziges positives Beispiel für das Gericht – und kein einziges negatives für den Zaren. Das größte Problem liegt darin, dass es noch nicht gelungen ist, zumindest im lokalen Bereich die Herrschaft des Rechts aufzubauen. Medwedew arbeitet daran bereits seit drei Jahren, aber die Erfolge sind bescheiden. Immer wenn er eine Rechtsreform durchziehen will, kommen die Bürokraten und sagen: Schauen Sie, das wird einfach nichts, machen wir es doch selbst.

STANDARD: Es gibt eine lange russische Tradition der Reformen und der Modernisierung von oben. Die Geschichte zeigt, dass das nie wirklich funktioniert hat. Das scheint damit zusammenzuhängen, dass alle russischen Herrscher, von den Zaren über Stalin bis heute, dem russischen Volk ein großes, manchmal übermenschliches Maß an Lasten und Leiden aufgebürdet haben, andererseits aber den Menschen keine Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zutrauen und zugestehen.

Pawlowski: Das ist Propaganda. Ob es stimmt oder nicht, ist eine andere Sache, aber es ist Ideologie. Man muss die Einzelfälle analysieren, was jeweils wirklich passiert ist. Die Reformbemühungen von unten – es gab ja drei Revolutionen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts – haben auch keine Ergebnisse gebracht.

STANDARD: Das waren aber keine Reformen von unten, sie wurden von Eliten initiiert.

Pawlowski: Die Reformen von unten, die Sie meinen, sind bereits Reformen in einer nachhaltigen Gesellschaft, die geschützt ist durch gerichtliche Institutionen. Das Jahr 1917 hat die alten Eliten weggefegt. Das ist sehr schnell zu einem Albtraum geworden, und aus diesem Albtraum entstand der totalitäre Staat. Das bedeutet keineswegs, dass Russland nicht geeignet ist für die Demokratie, sondern dass man es weiter versuchen muss. Wir haben heute ganz andere Startbedingungen: Es gibt im Land einen Konsens über die demokratischen Grundfreiheiten. Wir haben eine ziemlich gute demokratische Verfassung. Unter diesen Bedingungen wäre es eine Schande, wenn wir nicht versuchten, eine echte Demokratie des Rechts aufzubauen.

STANDARD: Präsident Medwedew unternimmt ja immer wieder Anläufe in diese Richtung.

Pawlowski: Medwedew hat vor zwei Jahren das internationale Forum von Jaroslawl ins Leben gerufen, dessen Thema der moderne demokratische Staat ist. Ich bin Mitglied des Rats dieses Forums. Da versammeln sich westliche Politiker und Philosophen mit russischen Intellektuellen. Wir polemisieren nicht, wer besser ist, der Westen oder der Osten, sondern analysieren funktionierende Systeme. Da sind zum Beispiel auch amerikanische Befürworter des chinesischen Modells dabei. Die sagen, dass die Chinesen eine vertikale Demokratie aufgebaut haben. Wenn das Amerikaner sagen, ist das ein interessanter Ansatz. Medwedew sagte in meiner Gegenwart, er schätze die Wahl, die China getroffen hat, in Russland wolle er allerdings keine vertikale Demokratie.

STANDARD: Premier Putin hat eine „Gesamtrussische Volksfront“ gegründet, offenbar um seine Position gegenüber dem Medwedew-Lager zu stärken. Sehen Sie die Gefahr, dass damit nationalistische Reflexe und Bewegungen ausgelöst werden könnten, die dann nicht mehr kontrollierbar sind?

Pawlowski: Ich sehe eine andere Gefahr. Putin ist in der ethnischen Bedeutung des Wortes sicher kein Nationalist. Er hat sich sehr entschlossen gegen die These „Russland den Russen“ ausgesprochen. Die Gefahr liegt darin, dass es für die Volksfront keinen Platz im Verfassungssystem gibt. Das ist eine Organisation ohne Ideologie, ihre einzige Ideologie ist Putin selbst. Das zwingt Putin, sich dieser Rolle anzupassen, und das wird sein politisches Antlitz ändern. Will Putin Chávez (autokratischer Präsident Venezuelas, Red.) werden? Er wollte ja auch nicht Lukaschenko (diktatorischer Präsident Weißrusslands, Red.) werden. Aber es liegt eine gewisse Weiterentwicklungslogik in dieser formlosen Organsation, die in diese Richtung führen kann und die Putin dann nicht mehr kontrolliert.

STANDARD: Könnte sich Medwedew dem Volk als Garant der Verfassung präsentieren – paradoxerweise gegenüber Putin, der ja noch immer als Stabilitätsgarant gilt? Pawlowski:_Der Präsident hat die Pflicht, die Verfassung zu verteidigen. Hier aber eine Kluft zwischen Medwedew und Putin zu schaffen, wäre extrem gefährlich für Russland und die politische Klasse. Putin ist eine Art Konsensfigur, er steht über den Parteien und wird in hohem Maße als Vater der Nation angesehen, weil Boris Jelzin schon in Vergessenheit geraten ist. Wenn Medwedew einen politischen Angriff gegen Putin unternähme, würde er seine eigenen Anhänger spalten, und dann ist er sicher in der Minderheit. Wir brauchen einen öffentlich akzeptierten Kompromiss. Am einfachsten wäre es, ein verbindliches Programm auszuarbeiten, das unabhängig davon gilt, wer 2012 Präsident wird. Die Wähler haben ein Recht darauf zu wissen, dass am Tag nach der Wahl nicht gesagt wird, vergessen Sie die Modernisierung, jetzt haben wir die Volksfront, warten Sie auf Ihre Einberufung.

STANDARD: Ist es denkbar, dass Putin und Medwedew bei der Wahl gegeneinander antreten?

Pawlowski: Dieses Szenario wäre möglich gewesen, wenn man es zwei Jahre vorbereitet hätte. In der gegenwärtigen Situation wäre es extrem gefährlich: ein Kampf nach dem Prinzip „Alles oder nichts“. Dann würde sich der bürokratische Apparat aufspalten und administrativen Druck zugunsten des einen oder des anderen ausüben. In einer nicht durch Rechtsstaatlichkeit gekennzeichneten Gesellschaft ist das eine höchst gefährliche Situation. Das könnte den Weg bereiten für eine dritte Kraft mit offen verfassungswidrigem Charakter.

STANDARD: Wer könnte das sein? Pawlowski:_In einem Land, wo ein Drittel des BIP in korrumpierten Kreisen lukriert wird, sind enorme Mittel frei. Es gibt eine ganze, gut bewaffnete Bewachungsarmee für diese riesigen Reichtümer, deren Besitzer man nicht kennt. Da könnte dann ein Spiel mit gewaltsamen Lösungen beginnen, etwa dass ein Militär oder ein Apparatschik mit Unterstützung der Silowiki (Geheimdienstler, Militärs, Red.) oder der Großunternehmer an die Macht kommt. Die Akteure eines solchen Abenteuters könnten extrem fundamentalistische Kreise, also aus der orthodoxen Kirche, oder auch ethnische Nationalisten sein. Sie sind bereits jetzt im Apparat vorhanden, aber fürchten sich noch, ans Licht zu treten. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.7.2011 erschienenen Interviews)