Bären, schrieb die New York Times in einem Artikel vor einigen Jahren, sind eine subkulturelle Gruppe schwuler Männer, die es lieben, einander am dicken, natürlichen Körperhaar zu kraulen. Vor dem Prince Albert Guest House, einem typisch neuenglischen Gästehaus mitten im Zentrum der Stadt, wird die journalistische Theorie manifest. Zwischen Lilien, Gladiolen und Oleandern stehen sie im Rudel, das Bier in der einen Hand, die Gürtelschlaufe in der anderen, und recken stolz ihre kugelrunden, mächtig behaarten Bäuche in die Sonne.
Sommer für Sommer verwandelt sich Provincetown, die kleine Provinzhauptstadt am Ende der Halbinsel Cape Cod, in ein Mekka für Lesben und für Schwule. Nirgendwo ist Massachusetts so rosarot wie hier. Hinzu kommt, dass jede Woche zwischen Mai und Oktober unter einem anderen Motto steht. Mal werden die väterliebenden Väter aufgefordert zu kommen, mal die reiferen Single-Damen, mal die homosexuellen Flugbegleiter und Piloten. Die Gay Bear Week vom 9. bis 17. Juli jedoch, die steht ganz im Zeichen der muskel- und fettbepackten 100-Kilo-Männer. Haarige Sache.
"Ich lebe hier das ganze Jahr", sagt Michael Valenti. Der 54-Jährige ist Inhaber des White Wind Inn. Draußen am Portikus wehen Stars and Stripes und Regenbogenfahnen, im Innenraum herrscht Häkeldeckchenstimmung wie zu Großmutters Zeiten. Am Kamin stehen Quiche und frisches Obst bereit, aus den Lautsprechern wabbert süßer Jazz, Blumenvasen überall. "Im Frühling, Sommer und Herbst sind die Gästehäuser in P'town 180 bis 200 Tage durchgehend ausgebucht. Und zwar bis aufs letzte Bett. Doch glauben Sie mir, das P'town des Sommers hat mit dem des Winters nichts zu tun. Das sind zwei völlig verschiedene Städte."
Während im Winter ein paar hundert Leute den atlantischen Winden trotzen, fasst das Hafenstädtchen in den Sommermonaten bis zu 50.000 Einwohner und Touristen pro Tag. Die meisten kommen her, um der Gleichgesinntheit und den gemeinsamen gesellschaftlichen Vorlieben zu frönen. Die anderen kommen, um zu schauen. Eine Mutter spaziert mit ihrer Tochter Hand in Hand durch die Tremont Street. "Schau, Kleines, das sind dicke Männer, die gerne mit anderen dicken Männern zusammen sind. So ist das hier."
Bärenlagerfeuer
Und weil die dicken Männer auch unterhalten werden wollen, wird das Partyprogramm von P'town in der zweiten Juliwoche entsprechend adaptiert. Und man möchte sich gar nicht ausmalen, zu welchem Zweck der 77 Meter hohe Pilgerturm, das historische Wahrzeichen der Stadt, auf den Einladungskarten der Clubs und Diskos mitunter herhalten muss. Beworben werden etwa schwule Bärenbootsfahrten durch die Bucht, Bärenlagerfeuer mit Leder und Latex im Wald sowie Travestieshows mit nicht nur dicken, sondern auch dick geschminkten Bärinnen. Jeden Donnerstag, Freitag und Samstag tritt die mächtig beleibte Cashetta mit ihrer "Comedy Magic Show" im Art House auf. Der Saal ist bis auf den letzten Sitzplatz ausgebucht. Der Laden brummt.
"Ja, das Angebot ist überbordend, und die Stimmung im Juli ist brutal", sagt Angus McCaslin, Geschäftsführer im kleinen Hotel Carriage House. "Ich bin froh, dass Provincetown trotz dieses dichten Tourismusprogramms noch immer seinen Charme behalten hat." Zu verdanken ist das nicht nur den Festivalmachern und den Betreibern der vielen Gästehäuser, Geschäfte und Restaurants, sondern auch der Stadtverwaltung. Vor einigen Jahren beschloss der Gemeinderat von P'town, den touristischen Betrieb in lokaler Hand zu behalten und sämtlichen Hotel- und Fastfood-Ketten den Zutritt in die Stadt zu verwehren. "Vor allem in den USA ist so eine Haltung eine Seltenheit", so McCaslin.
Lon Casinelli, Betreiber des kleinen Bademoden-Shops "Bravo", sieht die Sache etwas skeptischer. Zu Beginn sei Cape Cod vor allem als östlichste Landungsstelle für Pilger aus Europa berühmt gewesen. Der Pilgerturm in Form eines alten toskanischen Geschlechterturms, errichtet 1892, soll daran erinnern. "Danach haben sich hier viele Künstler und Intellektuelle angesiedelt, und Provincetown wurde der Inbegriff für linke Bohemiens. Doch was in letzter Zeit mit diesem schönen Städtchen passiert ist, das ist eine Farce. P'town ist wie Disneyland - nur kleiner und schwuler."
Für sein kleines Geschäftslokal in der Commercial Street - an den Wänden werben nicht etwa vollbusige Blondinen, sondern braungebrannte Männer mit Sixpack - zahlt Casinelli 50.000 Dollar Miete im Jahr. "Man kann sich hier nichts mehr leisten. Es ist eine Katastrophe. Für ein Hotelzimmer legen die Touristen in der High Season locker 300 bis 400 Dollar pro Nacht hin. Beim Rest wird dann gespart." Irgendwann, meint der 56-Jährige, würde sich das Phänomen Provincetown ad absurdum geführt haben.
Das sagt auch Lydia Hamnquist. Gemeinsam mit ihrem Mann führt sie ein Geschäft für Geschenkartikel und Schmuck. "Nach außen hin ist das Leben hier sehr lustig und sehr fröhlich. Aber unter einer funktionierenden Stadt stelle ich mir ehrlich gesagt etwas anderes vor." Die Frauen sind in P'town in der absoluten Minderzahl, die klassische Familie ist hier ohnehin eine Rarität. Letztes Jahr absolvierten gerademal elf Kids die Provincetown High School. "Ich bin froh, dass ich meinen David habe", meint sie. "Ohne Ehemann kann man als Frau in diesem Nest verzweifeln."
Froh über ihre Davids, Toms und Fat Tonies sind auch die Bären im Garten des Prince Albert Hotels. Der Nachmittag ist angebrochen, das Bier wird plastikbecherweise gekippt, das Kraulen wird enthemmter. Partystimmung ist angesagt. Darf ich Euch fotografieren? "Ja, aber nur, wenn man unsere großen Bäuche sieht." (Wojciech Czaja/DER STANDARD/Rondo/08.07.2011)