Manfred Glauninger vor Karteischränken, in denen fast fünf Millionen Belegzettel für Dialektwörter für das "Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich" gesammelt wurden.

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STANDARD: Wie viele Dialekte sprechen Sie?

Glauninger: Als authentische Alltagssprache nur Grazerisch, meinen Herkunftsdialekt, in den ich gern wienerische und englische Elemente integriere.

STANDARD: Dann können Sie sicher sagen, welche Rolle der Dialekt in der Stadt heute noch spielt?

Glauninger: Besonders in einer Großstadt wie Wien verändert sich der Dialekt nicht nur formal, sondern auch funktional. Je seltener der Dialekt im Alltag wird, desto häufiger taucht er in anderen Sphären auf. Etwa in der Werbung und im Tourismus als Verkaufsschlager oder Kuriosum. Ähnlich verwenden auch Jugendliche einzelne dialektale Formen. Viele Wiener Teenager wissen gar nicht, dass "Oida" eigentlich "Alter" heißt. Sie gebrauchen das Wort zur Steuerung der Kommunikation oder expressiv – auch im Bewusstsein, dass Dialektsprechen nicht "schön" ist.

STANDARD: Seit wann hat der Dialekt diese Funktion?

Glauninger: Zuletzt ist in den 1970er-Jahren eine große Dialektwelle über Österreich und vor allem Wien gerollt. Stichwort Austropop. Eine solche Dialektwelle zeigt auch, dass den Menschen der Sprachwandel bewusst wird. Sie wollen den Dialekt konservieren. Derzeit gibt es eine neue Welle, die besonders die Popmusik außerhalb Wiens ergreift, zum Beispiel mit dem Oberösterreicher Lukas Plöchl. Grundsätzlich ist aber die Situation in Wien mit Restösterreich nicht vergleichbar.

STANDARD: Inwiefern?

Glauninger: In Wien gibt es zum ersten Mal eine Generation von Kindern und Jugendlichen, die unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund den Dialekt nicht mehr verwendet. Teilweise können sie den Dialekt auch nicht mehr sprechen.

STANDARD: Geht es hier um den Einfluss der Medien und des Internets?

Glauninger: Faktum ist, dass der Dialekt in Wien seit langem ambivalent bewertet wird. Er hat einerseits in einer idealisierten Form Prestige, etwa im Wienerlied, und wird andererseits als Merkmal der Unterschicht stigmatisiert. Eltern sprechen mit ihren Kindern in der Regel nicht Dialekt. Hinzu kommt das "hochdeutsch" geprägte Umfeld in der Schule und unter Gleichaltrigen, und die Sprache der Medien.

STANDARD: Im Gegensatz zu den regionalen Dialekten sind doch die Wiener Sprachvarietäten Ausdruck für den gesellschaftlichen Standard, etwa das Schönbrunner Deutsch. Was geschieht denn mit ihnen?

Glauninger: Früher hat die Wiener Bevölkerung ein sehr feines Gespür für die unterschiedlichen Varietäten gehabt. Es gibt auch Ausdrücke dafür: Man hat etwa einen "tiefen" Dialekt als "beißerisch" bezeichnet – oder die "Gaunersprache" gekannt. Dieses sprachliche Feingefühl hat abgenommen. Auch die Leute aus den Bundesländern, die "G'scherten", werden sprachlich oft alle in einen Topf geschmissen. Das "Meidlinger L" oder das Schönbrunner Deutsch werden gezielt im Kabarett oder in der Popmusik eingesetzt.

STANDARD: Nimmt also die Vielfalt an Dialekten und Sprachvarietäten ab?

Glauninger: Oberflächlich betrachtet könnte man das so sagen. Das wäre das evolutionäre Prinzip von Variation und Selektion, und am Schluss setzt sich etwas durch. Ganz so einfach verläuft die Sprachentwicklung aber nicht. Sprache muss und wird sich immer wandeln. Dass man dabei häufig von Schwund oder Verlust spricht, ist Kulturpessimismus.

STANDARD: Welchen Einfluss hat die Migration?

Glauninger: Hier hängt der Einfluss vom Fremdsprachlichen besonders vom Prestige der Sprachträger ab. Im 19. Jahrhundert sind Hunderttausende aus den Kronländern nach Wien gekommen. Die ansässige Bevölkerung hat sie wohl nicht so negativ als "Ausländer" gesehen und sich sprachlich beeinflussen lassen. Seit dem 20. Jahrhundert ist das Prestige der ebenso zahlreich zuwandernden Menschen niedriger. Für Übernahmen aus ihren Sprachen fehlt der deutschsprachigen Wiener Bevölkerung die Motivation.

STANDARD: Welche Bedeutung haben Fremdwörter für die deutsche Sprache?

Glauninger: Sprachpuristen behaupten immer, man braucht sie nicht, wenn es ein entsprechendes deutsches Wort gibt. Aber man gebraucht Sprache nicht nur, um die Welt in einem objektiven Sinn zu symbolisieren. Wenn man etwa "Ticket" statt "Fahrkarte" sagt, drückt es zusätzlich etwas anderes aus: Man will vielleicht signalisieren, dass man modern oder jung ist. Letztlich geht es auch hier ums Prestige. Oder um Abwechslung, Kreativität. Dazu hat jeder Mensch ein Recht. Ich finde, dass Sprachpurismus eine extreme Anmaßung ist. Ich will mir von niemandem meinen Sprachgebrauch einengen lassen.

STANDARD: SMSen, Twittern, der Cyberslang – wird hier nicht gar eine neue Sprachform geschaffen?

Glauninger: Es mag überraschen, aber es hat noch nie eine Generation gegeben, die so viel geschrieben hat wie die heutige Jugend. Was sie schreibt, ist eine andere Frage. Aber es handelt sich dabei tatsächlich um eine neue Form der Schriftlichkeit, geprägt durch die Interaktion in Echtzeit. Linguistisch nennt man das "geschriebene Mündlichkeit". Ich sehe darin einen großen Sprachwandel-Faktor.(DER STANDARD, Printausgabe, 06.07.2011)

Wissen: Die Zukunft der Akademie

In der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) stehen die Zeichen schon längere Zeit auf Umstrukturierung. Nach einer umfassenden Evaluierung bis 2012 soll es zu Zusammenlegungen kommen, am Ende werden 63 Forschungseinrichtungen auf 53 reduziert.

Rund 30 Kommissionen werden entweder mit oder zu Instituten vereinigt (etwa im Bereich Altertumsforschung und Archäologie). Das Institut für Hochenergiephysik (Hephy) und das Stefan-Meyer-Institut werden zusammengelegt und übersiedeln in ein noch zu bauendes Haus der Physik am Gelände des Atominstituts in Wien-Leopoldstadt. Schließungen will man auch deshalb vermeiden, weil sie mit einmaligen, vermehrten Ausgaben verbunden sind.

Verhandelt wird derzeit auch über das Budget. In Zukunft sollen die finanziellen Mittel des Wissenschaftsministeriums (Budget 2011: 91,3 Mio. Euro), wie berichtet, an eine Leistungsvereinbarung geknüpft sein. (red)