"Ich denke die Umstände dieses Falls haben sich grundlegend geändert, daher stimme ich der Enthaftung zu", wird der Richter im Fall Dominique Strauss-Kahn zitiert. Es scheint einer der spektakulärsten Fälle des Jahres zu sein: Der ehemalige IWF-Chef, Strauss-Kahn, wird von einer Hotel-Angestellten beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Seit Freitag ist Strauss-Kahn wieder auf freiem Fuß, weil die Staatsanwaltschaft dem mutmaßlichen Opfer nicht mehr glaubt, wenngleich die Anklage weiterhin besteht.
Vor sieben Wochen sah alles ganz anders aus: Die Staatsanwaltschaft war sich sicher, eine Verurteilung Strauss-Kahns wegen versuchter Vergewaltigung und Freiheitsentzug zu erreichen. Für die Verteidigung, die von Beginn an meinte, sie würde das Privatleben des mutmaßlichen Vergewaltigungsopfers ganz genau durchleuchten, ist die Enthaftung Strauss-Kahns ein Triumph. Dass es zwischen Strauss-Kahn und der Hotel-Angestellten zu sexuellen Handlungen gekommen ist, gilt aber als erwiesen. Was aber hat es mit dem oft genannten "Prinzip der Glaubwürdigkeit" auf sich? Und welche Spezifika erwartet Opfer sexueller Gewalt im US-Rechtssystem? dieStandard.at hat die Rechtswissenschaftlerin Elisabeth Holzleithner dazu befragt.
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dieStandard.at: Was hat es im Fall Dominique Strauss-Kahn mit dem "Prinzip der Glaubwürdigkeit" auf sich?
Elisabeth Holzleithner: Wenn der Vorwurf eines Sexualdeliktes im Raum steht, dann kann es körperliche Beweise geben - etwa Verletzungen im Intimbereich. Wenn diese fehlen, kommt es darauf an, inwieweit das mutmaßliche Opfer aufgrund der Fallerzählung davon überzeugen kann, dass es zu einem sexuellen Übergriff gekommen ist. In einem solchen Fall hängt dann alles von der Glaubwürdigkeit der betroffenen Person ab. Denn die Staatsanwaltschaft muss sich in ihrem Vorgehen gegen den Beschuldigten auf die Aussagen des Opfers stützen. In den USA kommt hinzu, dass die meisten Opfer die Grand-Jury, also das Geschworenen-Gericht, überzeugen muss. Die Grand-Jury muss einstimmig zum Ergebnis kommen, dass ein krimineller Übergriff stattgefunden hat.
Welche Informationen für deren Beurteilung ins Spiel gebracht werden dürfen, ist eine andere Frage. Aufgrund feministischer Intervention hat sich in den USA beim Verhör von Opfern sexueller Gewalt einiges geändert. Früher wurde vor Gericht etwa routinemäßig erhoben, wie viele Sexualpartner sie gehabt hatten - nach dem Motto: Wenn eine Frau schon mehrere Geschlechtspartner hatte, dann kann sie ja nicht vergewaltigt worden sein. Von Feministinnen wurde das ganz massiv kritisiert - inzwischen ist das nicht mehr zulässig. Andere Informationen, die darauf schließen lassen, wie glaubwürdig jemand ist, dürfen freilich schon erhoben werden.
Im vorliegenden Fall steht nun Aussage gegen Aussage - beide haben offenbar widersprüchliche Aussagen getätigt, doch während es zunächst zu einer medialen Vorverurteilung Strauss-Kahns gekommen ist - auch aufgrund seines Vorlebens -, kommt es nun zu seiner medialen Entlastung, indem das Opfer für unglaubwürdig erklärt wird. Das ist äußerst problematisch.
dieStandard.at: Man weiß von Gewaltopfern, dass sie sich aufgrund des Schocks oft in widersprüchliche Aussagen verwickeln. Warum hat diese Erkenntnis, so scheint es zumindest, hier keine Relevanz?
Holzleithner: Angesichts des Fehlens von Informationen kann ich das in diesem Stadium des Verfahrens überhaupt nicht beurteilen - inwieweit nämlich im vorliegenden Fall die generelle Erfahrung berücksichtigt wird, dass ein Opfer sexueller Gewalt sehr häufig widersprüchliche Aussagen tätigt. Dabei kann es um Details wie um jene gehen, von denen nun die Rede ist: Etwa was ein Opfer unmittelbar nach dem Übergriff getan hat. Es könnte durchaus sein, dass dies im vorliegenden Verfahren noch berücksichtigt wird - das kommt auf das weitere Vorgehen der Staatsanwaltschaft an.
dieStandard.at: Sehen Sie Möglichkeiten, wie man der speziellen Situation von mutmaßlichen Opfern von Sexualverbrechen entgegenkommen könnte?
Holzleithner: Man weiß jedenfalls, dass sexuelle Übergriffe häufig zu Traumatisierungen führen, die das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen. Genau wegen solcher Traumatisierungen sollte der Umgang mit Opfern von sexueller Gewalt besonders sensibel sein. Dazu gehört etwa eine schonende Vernehmung, wie sie in Österreich seit einigen Jahren von der Strafprozessordnung vorgeschrieben ist.
dieStandard.at: Laut Medienberichten hat Strauss-Kahn anfänglich den Vorfall geleugnet und schließlich zugegeben, dass es zu einvernehmlichem Sex gekommen ist. Wird das "Prinzip der Glaubwürdigkeit" hier gleichermaßen angewendet?
Holzleithner: Ich muss auch hier wieder voranschicken, dass ich nur über sehr bruchstückhafte Informationen verfüge. Momentan haben sich die Machtverhältnisse aufgrund neuer Informationen über das Verhalten und die widersprüchlichen Aussagen der Hotel-Angestellten zum Vorteil von Strauss-Kahn verschoben. Die Unstimmigkeiten in seinen eigenen Aussagen werden nun sichtlich als weniger gravierend angesehen als jene in den Aussagen der Hotel-Angestellten. Aber eines ist klar: Hier ist es nachweislich zu einer sexuellen Handlung gekommen. Ob es körperliche Zeichen von Gewaltanwendung gibt, ist mir aufgrund dessen, was ich gelesen habe, nicht ersichtlich.
Wenn es keine körperlichen Verletzungen gibt, dann hängt alles von der Aussage des Opfers ab - und damit auch von seiner Glaubwürdigkeit. Deswegen liegt die Last im Verfahren primär beim Opfer.
dieStandard.at: Gibt es nicht noch ein anderes Ungleichgewicht? Auf der einen Seite stehen eine Immigrantin, die in ihrem Herkunftsland genitalverstümmelt wurde und ein schwarzer Anwalt, der sie vertritt. Auf der anderen Seite stehen einer der einflussreichsten Männer der Welt mit einer Horde an renommierten Anwälten. Wie sehen Sie das?
Holzleithner: Allerdings, wir haben es hier mit einem extremen Gefälle zu tun. Das ist ganz offensichtlich. Der ganze Fall und die Art, wie er in den Medien verhandelt wird, ist im Grunde ein Skandal: Nach wochenlanger Vorverurteilung Strauss-Kahns verfallen die Medien nun in das Gegenteil und behaupten unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft die Unglaubwürdigkeit des Opfers - aufgrund von Informationen, die mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun haben, und die nur sehr lückenhaft an die Öffentlichkeit gelangen.
Warum sollte sich die Hotel-Angestellte diese Geschichte ausgedacht haben? Was hat ihr Asylverfahren mit dem zu tun, was in dem Hotelzimmer geschah? Warum soll ihre Glaubwürdigkeit beschädigt sein, weil sie sich mit jemandem darüber beraten hat, ob es Sinn macht, den Fall vor Gericht zu verfolgen? Angesichts der Belastungen, die mit einem Verfahren über ein Sexualverbrechen verbunden sind, ist es an sich nur vernünftig, diese Frage zu stellen und mit anderen zu diskutieren.
Bei allem Unbehagen angesichts der von Ihnen angesprochenen Konstellation: Die Unschuldsvermutung ist ein ganz zentrales rechtsstaatliches Prinzip. Sie gilt auch für Strauss-Kahn. Was nun anstünde, wäre ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht. Hier wäre das zu klären, was derzeit in sensationalistischer Art und Weise in den Medien verhandelt wird. Aber ich fürchte, es ist naiv, darauf zu hoffen.
Umso wichtiger scheint mir, jenen entgegenzutreten, die Strauss-Kahn jetzt schon für rehabilitiert ansehen wollen, ohne das Verfahren abzuwarten. Darüber hinaus wäre es an der Zeit, ganz grundlegend über jene Machtfragen zu diskutieren, die sich an der Schnittstelle von Sexualität, Sexismus, Rassismus, Staatsbürger_innenschaft und ökonomischer Position realisieren - und die im vorliegenden Fall überdeutlich zum Ausdruck kommen.
(Die Fragen stellte Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 5.7.2011)