Gene Sharp ist der Gründer der Albert Einstein Institution. Er schrieb die "Do-it-Yourself-Anleitung" für gewaltfreie Aufstände. "The Politics of Nonviolent Action (1973)" liefert einen handlungsorientierten Ansatz zu gewaltfreier Aktion. Sharps Buch soll mehrere Demokratisierungsbewegungen beeinflusst haben, wie zum Beispiel in der DDR, in der Ukraine, in Kirgisien und auch in Ägypten.

Foto: aeinstein.org

Für Israel ist es ein Reizbegriff, in der arabischen Welt eine Erfolgsgeschichte: Der gewaltlose Widerstand. Tausende Palästinenser könnten bald wieder zurück auf die Straße gehen und die Muskeln der Massenrevolte spielen lassen. Ein von Israel gefürchtetes Szenario, auf das sich diese Woche das Zentralkommando des israelischen Militärs vorbereitet hat. Die Erinnerung an den Grenzsturm hunderter syrischer Palästinenser in den Golanhöhen sitzt tief und der arabische Frühling ist noch nicht vorüber.

Doch Palästina ist nicht Ägypten, Israel nicht Hosni Mubarak. Auch wenn die Palästinenserführung gerne die Option von unvorhersehbaren Massenprotesten betont, erzählt die Realität am Boden eine andere Geschichte. Denn gewaltloser Widerstand passiert im Westjordanland, im Gazastreifen, den Golanhöhen und in Ostjerusalem in kleinen, voneinander isolierten Inseln. Doch wie stehen die Chancen für einen flächendeckenden palästinensischen Volksaufstand?

Einer der wissen muss, wie gewaltloser Widerstand funktioniert, ist der 83-jährige Politikwissenschaftler Gene Sharp. Sein in 25 Sprachen übersetztes Handbuch "Von der Diktatur zur Demokratie" hat Widerstandsbewegungen in der ganzen Welt beeinflusst. Die neueste Veröffentlichung auf der Webseite seiner "Albert Einstein Institution" in Boston ist "Selbstbefreiung", ein Leitfaden für Aktionen gegen Diktaturen und andere Unterdrückung.

Punktuelle Erfolge

Seine Handbücher sind leicht verständlich, praktisch und nicht auf den Einzelfall beschränkt. Obwohl er schon länger nicht auf Feldforschung in den Palästinensergebieten war, würden seine Texte generell auch hier zutreffen, erklärt er im Gespräch mit derStandard.at. Nur werden Palästinenser nicht von einer Diktatur unterdrückt, sondern von Israel besetzt. "Unterdrücker und Unterdrückte sind hier nicht Teil einer einzigen Nation. Die Situation ist eher mit denen in Kolonialgebieten vergleichbar."

Auch wenn gewaltlose Proteste in den Palästinensergebieten vorerst nur selten und in abgeschlossenen Konfliktherden stattfinden, zeigen sie punktuell auch Erfolge. Ein Beispiel ist das Dorf Bil'in im Westjordanland, wo dieser Tage die israelische Sperrmauer versetzt wird, weil die alte Route unrechtmäßig weit in das Farmland der Dorfbevölkerung hineinreichte. Jahrelange wöchentliche Proteste an der Mauer und Klagen vorm israelischen Höchstgericht haben hier viel erreicht. Weitere regelmäßige Proteste gibt es etwa auch gegen jüdische Siedlungen in Ostjerusalem, wie im Stadtteil Sheikh Jarrah.

Von Massenbewegung keine Spur

Doch von einer breiten Massenbewegung ist vorerst keine Spur. „Dafür fehlt den Palästinensern eine konkrete Strategie des gewaltlosen Widerstands, den die breite Bevölkerung unterstützen könnte", meint Sharp. Wenn der 83-jährige von Strategieplanung spricht, dann meint er damit harte Arbeit. „Wenn sie gewaltlosen Widerstand ernst nehmen wollen, müssen sie zuerst einmal viel wissen. Wie komme ich zu Erfolg? Wo sind die Schwächen des Gegners, wo seine Stärken?", sagt er und erklärt, dass er als Antwort auf diese und viele andere Fragen den „Leitfaden zur Selbstbefreiung" verfasst hat. Dieser würde auf viele weitere Texte hinweisen, die gemeinsam etwa 900 Seiten umfassen. "Du musst den Kampf verstehen, um ihn zu führen", fügt er hinzu.

Strategie und Wissen seien wichtig für den langfristigen Erfolg von Bewegungen. Aber sind es nicht oft die kleinen symbolischen Funken, wie der tunesische Gemüsehändler, der sich aus Verzweiflung selbst verbrannt hatte, die unvorhergesehen eine Massenrevolte auslösen? „Ich bin kein Unterstützer von Selbstverbrennung. Das ist ein Zeichen tiefer Verzweiflung. Wenn sich Menschen anzünden um gehört zu werden, ist die Lage schon sehr schlimm", bedauert Sharp. Trotzdem seien solche Taten von hohem Symbolgehalt. „Aber sein Opfer hätte nie zu etwas geführt, wenn nichts weiter passiert wäre. Die Bereitschaft der Menschen, auf die Straße zu gehen, ihre Proteste und die Nicht-Kooperation mit dem Regime, haben letztlich zum Wandel geführt", erklärt er.

Anerkennung durch UNO

Diese Bereitschaft könnte unter Palästinensern bald steigen, wenn nach der geplanten Anerkennung des Palästinenserstaates durch die UNO im September keine Taten folgen. Dann können auch in Ostjerusalem, dem Westjordanland und im Gazastreifen kleine Funken einen Flächenbrand auslösen. „Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es nach September zu Massenprotesten kommt", bestätigt auch der Leiter des Medienbüros der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, Ghassan Khatib. Für Gene Sharp flüchten die Palästinenser mit dem UNO-Vorhaben. „Sie geben einfach die Verantwortung sich selbst zu retten an andere weiter. Die Anerkennung ihres Staates wird keine magische Wirkung haben", kritisiert er. Ein international anerkannter Palästinenserstaat würde sich zwar großartig anhören und sei auch ein wichtiger Schritt, „aber es reicht nicht aus".

"Höchst motiviert"

Eine Form des Widerstands ist gerade auf dem Seeweg Richtung Gaza. Die zweite sogenannte Hilfsflotte soll die israelische Seeblockade durchbrechen und Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen. Im Gegensatz zur Auffassung der teilnehmenden Aktivisten findet die israelische Regierung an dieser Strategie nichts gewaltlos, sondern sieht darin ein weiteres Kapitel der internationalen Kampagne zur De-Legitimierung Israels. Sharps Erklärung klingt noch einfacher. De-Legitmierung hin oder her, "wenn Israel nicht von Palästinensern und der internationalen Gemeinschaft gehasst werden will, müssen sie aufhören die Dinge zu tun, für die sie jeder hasst."

Auf der Startseite von Sharps Albert Einstein Institution steht ein Satz, der sein Lebenswerk zusammenfasst: "Wir setzen uns für die Verteidigung von Freiheit, für Demokratie und die Reduzierung politischer Gewalt durch gewaltloses Handeln ein." Diese Strategie wird in Palästina spätestens dann wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn alle anderen Wege ausgeschöpft sind. Vielleicht lesen die palästinensischen Chefstrategen ja schon Gene Sharps "Selbstbefreiung".

Gemeinsam mit seiner Kollegin Jamila Raqib wird der "Demokrator", wie er von der ZEIT genannt wurde, weiterhin an der Demokratisierung der Diktaturen dieser Welt arbeiten. Auf die Frage, ob er nicht langsam müde werde, antwortet er: "Ich bin sehr müde. Aber trotzdem immer noch höchst motiviert." (Andreas Hackl, derStandard.at, 4.7.2011)