Gabi Barfuss mit Schülerin Antonia am Krankenbett. In der internen Abteilung tragen die Lehrer weiße Mäntel - "damit wir uns auch aufs Bett setzen können."

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In zehn Wiener Spitälern gibt es Krankenhaus-Schulen.

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Ein Klassenraum im Wiener Wilhelminenspital.

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In der internen Abteilung wird viel gebastelt und gezeichnet.

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Stefan Lehninger und Brigitte Gruber unterrichten 11- bis 16-Jährige mit psychosomatischen Erkrankungen.

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Eine Gemeinschaftsarbeit von mehreren Spitalsschülern.

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Lehrerin Barfuss lädt die Kinder zum Unterricht ein.

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Aufgaben für die Schüler.

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David kann nicht ruhig sitzen. Er rutscht auf seinem Sessel hin und her und will mit seiner Sitznachbarin blödeln. Weil sie ihn ignoriert, versucht er auf einem anderen Weg Aufmerksamkeit zu erhaschen. Er reibt seinen Bleistift solange auf dem Tisch bis ein Quietschen entsteht, das in den Ohren wehtut. David gefällt es, im Mittelpunkt zu stehen. Er grinst über beide Ohren, wenn es ihm gelingt. Der elfjährige Schüler ist ein bisschen zu dick, hat dunkelblonde Haare, eine Stupsnase und wirkt fröhlich. Er hört mit den Quietschgeräuschen solange nicht auf, bis Lehrerin Brigitte Gruber mit ihm aus der Klasse geht, damit er sich wieder beruhigen kann.

Zurück bei den restlichen neun Schülern bleibt der zweite Klassenlehrer, Stefan Lehninger. "Jammern hilft nichts", steht auf seinem T-Shirt. Es könnte sein Motto sein. Er hilft den Schülern dabei, Hauptstädte aus dem Atlas zu suchen. Die Schüler sind zwischen elf und 16 Jahre alt und werden jahrgangsübergreifend unterrichtet.

Kinder mit psychosomatischer Erkrankung

Es ist eine typische Situation für die Schulklasse im Wiener Wilhelminenspital, in der Kinder unterrichtet werden, die psychosomatisch erkrankt sind. Das Wilhelminenspital im 16. Bezirk ist eines der größten Krankenhäuser Wiens. Auch Schüler, die wegen einer Lungenentzündung in der internen Abteilung aufgenommen werden, erhalten Unterricht. Selbst wenn sie nur ein paar Tage hier sind. Genauso Patienten, die an Infektionskrankheiten wie Tuberkulose leiden. In insgesamt zehn Wiener Spitälern gibt es die "Heilstättenschule", wie sie offiziell heißt. Pro Jahr werden durchschnittlich 5000 Kinder im Regelfall bis zur 9. Schulstufe unterrichtet. 

Die Schulbänke im Wilhelminenspital sehen aus wie in jeder anderen Klasse auch. An der Wand hängt eine Tafel. Keine grüne, sondern eine moderne, weiße Tafel, auf der man mit Stiften schreibt. Die Wände sind kahler als sonst, die Zeichnungen und Plakate bereits abmontiert. Bald sind Sommerferien. An jenem Donnerstag ist der vorletzte Schultag.

Patienten sind Schulverweigerer

"In der Abteilung für Psychosomatik haben wir es zu 80 Prozent mit Schulverweigerern zu tun", erklärt Lehrerin Brigitte Gruber nach dem Unterricht. Warum die Kinder nicht in die Schule gehen wollen oder können, hat verschiedene Gründe. Sie haben soziale Schwierigkeiten, trauen sich nicht weg, weil ein Elternteil einen Selbstmordversuch gemacht hat und sie Angst haben, er könnte es wieder tun, wenn sie nicht zuhause sind. Andere sind mager- oder spielsüchtig.

Im Spital bleiben sie für zumindest drei Monate. In Absprache mit der Schule, die die Kinder normalerweise besuchen, versuchen die Spitalslehrer, den Lehrstoff im Krankenhaus weiter zu vermitteln. "Schule ist das einzig Reale in der künstlichen Krankenhauswelt", sagt Gruber. Circa zwanzig Stunden pro Woche gehen die Schüler in die Krankenhaus-Schule. Für die Patienten der psychosomatischen Abteilung gibt es einen eigenen Schulpavillon auf dem Gelände des Wilhelminenspitals, in dem sich auch der Klassenraum befindet.

"Intensiverer Kontakt" zu den Schülern

Gruber unterrichtet bereits das 17. Jahr in der Heilstättenschule. Ihr gefällt der Beruf, weil im Krankenhaus auch das "gruppendynamische und soziale arbeiten" dazukommt, wie sie erklärt. Grubers Kollege Lehninger hat sein erstes Unterrichtsjahr hinter sich. Er hebt den "intensiveren Kontakt" zu den Schülern hervor, den er hier im Spital hat.

Direktorin Ingrid Schierer steht den Lehrern in zehn Wiener Spitälern vor. Sie hat früher selbst im Krankenhaus unterrichtet. "Es gibt die verschiedensten Krankheitsbilder. In Unfallspitäler kommen andere Kinder als in Psychiatrien", erklärt sie. Die Lehrer hätten sich mit ihrer Arbeit auf die besonderen Bedürfnisse der einzelnen Kinder einzustellen. Wenn es notwendig ist, gibt es Einzelunterricht. Etwa dann, wenn Kinder an ansteckenden Krankheiten leiden.

"Dezente" Herangehensweise

"Die Idee ist die, dass die Kinder den Bezug zur eigenen die Klasse nicht verlieren, und dass sie im Spital dasselbe lernen wie in der Schule", so Schierer. "Wir machen das sehr dezent, ohne uns aufzudrängen." Der Gesundheitszustand sei natürlich dringender als der schulische Fortschritt. Immer wieder kommt es auch vor, dass Kinder im Krankenhaus Schularbeiten schreiben. Die Schularbeit wird an die eigentliche Schule retourniert und dort benotet. Am Ende des Krankenhausaufenthalts schreiben die Spitalslehrer den Kindern eine Schulbesuchsbestätigung. Verbringen die Kinder mehrere Wochen im Krankenhaus, fließt ein Beurteilungsvorschlag der Spitalslehrer im Normalfall ins Zeugnis ein.

Ein weiterer Aspekt der Schule im Spital wird immer wichtiger: Die Begleitung der Kinder bei der Reintegration in ihrer Herkunftsschule. Waren Schüler mehrere Wochen oder gar Monate nicht fähig, die Schule zu besuchen, sollen sie von Lehrern unterstützt werden, damit die Wiedereingliederung in die Klasse leichter geht. Bei der Reintegration sieht Schierer noch Handlungsbedarf: "Wir brauchen diese Nachsorge. Auch wenn die Schüler keine Patienten mehr sind und als gesund entlassen werden, besteht oft noch ein Bedarf nach Betreuung und Begleitung in den schulischen Alltag oder bei der Berufsfindung."

Berufsbegleitender Hochschullehrgang

Die Lehrer der Heilstättenschule haben ein Pflichtschullehramt absolviert, sind Volks-, Haupt- oder Sonderschullehrer. Das ist Grundvoraussetzung, um in einem Krankenhaus unterrichten zu dürfen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, die Ausbildung zum Krankenhauslehrer ("Heilstättenpädagogik") zu absolvieren. Dabei handelt es sich um einen Hochschullehrgang, der sechs Semester dauert und berufsbegleitend besucht werden kann. Angeboten wird er von der Pädagogischen Hochschule in Oberösterreich. 

Lehrerin Gabi Barfuss hat eine solche Ausbildung nicht absolviert. Die 58-Jährige unterrichtet bereits seit ihrem 20. Lebensjahr in der Heilstättenschule. Seit einigen Jahren nun schon in der internen Abteilung des Wilhelminenspitals, die sich wenige Meter vom Schulpavillon, in dem die psychosomatisch erkrankten Kinder unterrichtet werden, befindet. Im Unterschied zur Psychosomatik werden die Kinder hier meist nur für einige Tage bis Wochen stationär aufgenommen. Sie haben Lungenentzündung, Bronchitis oder ähnliche infektiöse Krankheiten. Sobald es der Gesundheitszustand erlaubt, nehmen sie am Unterricht teil.

"Schule ist auch Ablenkung"

Am Vormittag bastelt, rechnet, liest und zeichnet Barfuss mit den Kindern. In einem freundlichen Zimmer mit vielen Büchern und Zeichnungen an der Wand gibt es die Möglichkeit, in Ruhe zu arbeiten. "Durch den Einzel- und Kleinstgruppenunterricht habe ich die Möglichkeit neben der Vermittlung des Lehrstoffes schulische Probleme zu entdecken und die Kinder entsprechend zu fördern", sagt Barfuss. Die Schule im Spital ist für sie auch eine psychohygienische Maßnahme, eine "Hilfe gegen den fremden, eintönigen Spitalsalltag". Die Schule sei den Kindern vertraut, das Wiedererkennen bestimmter Lerninhalte und Unterrichtsmittel fördere die Sicherheit. Barfuss: "Schule ist auch Ablenkung von Krankheiten und Schmerzen." (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 8.7.2011)