Einrisse im Faserknorpelring lassen die gallertige Masse im inneren der Bandscheibe austreten.

Foto: Orthopädisches Spital Speising

Bandscheibenvorfälle sind keine Frage des Alters und ein Vorfall mit 30 darum auch keine Ausnahmeerscheinung. Dahinter steckt der Verschleiß dieser knorpeligen Stoßdämpfer, der nicht grundlos schon im jugendlichen Alter von 25 Jahren beginnt. Was die Abnützung beschleunigt, ist die spezielle Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff. Die erfolgt bei Bandscheiben nämlich nicht über Blutgefäße, sondern durch Diffusion. 

Anders jedoch als bei Arthrosen im Knie - einer Erkrankung, die zwar ebenfalls das Knorpelgewebe betrifft, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt akut wird - kommt bei der Bandscheibe ein entscheidender Aspekt dazu. „Der Gallertkern junger Menschen ist noch relativ flüssig, dadurch wird er unter hohem Druck leichter herausgepresst als bei älteren Menschen, deren Bandscheibe bereits ausgetrocknet ist", beschreibt Michael Ogon, Leiter der III. Allgemeinen Orthopädischen Abteilung im Orthopädischen Spital Speising in Wien, was Altwerden im Fall der Bandscheiben für einen Vorteil bringt.

Tägliches Schrumpfen

Im Detail spielt sich dabei folgendes ab: In den zwischen den Wirbelkörpern gelegenen Bandscheiben befinden sich weiche Gallertkerne, die von einem Ring aus Faserknorpeln in Position gehalten werden. Diese Kerne besitzen eine außerordentlich hohe Wasserbindungsfähigkeit um Stöße und Erschütterungen besser abzufedern. Bereits im Laufe eines Tages wird Flüssigkeit durch das Körpergewicht aus den Bandscheiben herausgepresst, nachts saugen sich die Gallertkerne wie Schwämme wieder voll. Damit erklärt sich, warum der Mensch morgens immer etwas größer ist als am Abend. 

Einrisse in diesem Faserknorpelring können dazu führen, dass die Gallertmasse in das knorpelige Gewebe vordringt. Im CT oder MRT ist diese Veränderung sichtbar. Klinisch relevant ist sie aber nicht unbedingt, denn die individuelle Struktur der Wirbelsäule spielt bei der Entwicklung von Symptomen eine ganz entscheidende Rolle. Schmerzen bekommt der Betroffene erst dann, wenn sich die Bandscheibe über die Ränder der Wirbelkörper hinauswölbt und auf benachbarte Nerven im Wirbelkanal drückt. Durch den Druck auf die entsprechende Nervenwurzel, entstehen sogenannte radikuläre Schmerzen, analog dem Nervenversorgungsgebiet im Arm oder Bein.

Im Kanal ausweichen

Der Grund warum also manche Menschen mit dokumentiertem Bandscheibenvorfall trotz lebenslanger schwerer körperlicher Arbeit keine Probleme bekommen und wiederum andere schon in jungen Jahren unter höllischen Schmerzen leiden, hängt mit der anatomischen Bandbreite zusammen. Ist der Spinalkanaldurchmesser (Wirbelkanalweite) anlagebedingt weit, dann können nervale Strukturen bei einem Vorfall besser ausweichen. Der Discusprolaps bleibt in dem Fall symptomfrei. 

Schwachstellen für Bandscheibenvorfälle sind die beweglichsten Abschnitte der Wirbelsäule, sprich der Lenden- und Halswirbelbereich. Lokale Rücken- bzw. Beinschmerzen, Taubheits- und Kribbelgefühle sind typisch für Vorfälle im Bereich der Lendenwirbelsäule. Ist die Halswirbelsäule betroffen, dann finden sich Schmerzen und Sensibilitätsstörungen in Schultern, Armen oder Fingern.
Im Extremfall verlagert sich der Gallertkern in den Spinalkanal (Wirbelkanal) hinein und verursacht ausgedehnte Lähmungserscheinungen und Reflexausfälle. Kommen Blasen- und/oder Darmentleerungsstörungen dazu, dann sind Neurochirurgen gefragt. In Hinblick auf bleibende Schäden, ist eine Operation in diesen - zum Glück - seltenen Fällen zwingend. 

Ansonsten agieren Orthopäden und Neuro- beziehungsweise Unfallchirurgen heute bei Bandscheibenvorfällen eher zurückhaltend. Denn auch bei diskreten Lähmungen ist nicht sicher, ob die Operation die neurologische Funktion tatsächlich besser wieder herstellt, als der natürliche Verlauf.

Umstrittene Chemonukleolyse

Beim Gros der Patienten gestalten sich die therapeutischen Überlegungen daher nicht ganz einfach. Der Schmerz rückt hier in den Mittelpunkt des Interesses, da 90 Prozent aller Diskushernien nur mit Schmerz, nicht aber mit Lähmungen einhergehen. Das Therapieangebot ist für die Patienten längst nicht mehr überschaubar und einiges davon ist umstritten, wie beispielsweise die Chemonukleolyse mit Laser, Ozon oder Chymopapain. Behandlungsziel ist hier die Auflösung des Bandscheibengewebes. Inwiefern das den Patienten von Nutzen ist, wissen auch Experten nicht zu beurteilen. Viele Ärzte schwören aber auf bestimmte Therapieformen und gründen diese vornehmlich auf ihre eigenen Erfahrungen.

„Grundsätzlich führen viele Wege nach Rom, das gilt auch für die Behandlung eines Bandscheibenvorfalls", weiß Ogon und rät zu Methoden, die nichts „kaputt" machen. Seine Therapie der Wahl sind Infiltrationen direkt an der Nervenwurzel. Bei dieser minimalinvasiven Behandlungsmethode werden Lokalanästhetika oder Kortisonpräparate neben die eingeengte Nervenwurzel (periradikuläre Therapie) oder unmittelbar in die Nähe des Rückenmarks (peridurale Therapie) gespritzt. Der Ursache auf den Grund geht man dabei zwar nicht, jedoch beschleunigen die Injektionen einen Rückgang der Schwellung und damit den natürlichen Heilungsprozess. Die Bandscheibe schrumpft, indem sie an Wassergehalt verliert. Die Beschwerden klingen ab.

Bewegung statt Schonung

„Das geht aber nicht von heute auf morgen, darüber müssen sich auch die Patienten im Klaren sein", ergänzt der Orthopäde. Tatsächlich leben die Betroffenen mitunter bis zu 12 Wochen mit anhaltenden Schmerzen, über die jedoch die kontrollierte Einnahme von Schmerzmittel hinweg hilft. Mit anderen Methoden, wie Physio- oder Elektrotherapie und manueller Therapie kann diese Form der beschleunigten Spontanheilung noch unterstützt werden. 

Entgegen langjähriger Empfehlungen ist heute weder Bettruhe noch lange Schonung angesagt. Bewegungsübungen die der Stabilität der Wirbelsäule, der Körperhaltung und der Koordination dienen, werden den Patienten im Rahmen der Rehabilitation näher gebracht. Ogon: „Früher waren die Patienten lange im Krankenstand. Heute lassen sich bandscheibenbedingte Arbeitsausfälle weitgehend vermeiden". (derStandard.at, 14.09.2011)