Man Ray "Portraits. 1921-1976". Herausgeber: Clément Chéroux. € 59,70 / 320 S., Schirmer/Mosel Verlag, München 2011

Foto: Schirmer/Mosel

Er kannte sie alle, hat alle fotografiert und mittels seiner spektakulär-artifiziellen, oft surrealen Optik ihr öffentliches Bild geprägt. Seine Freunde, künstlerischen Wegbegleiter, auch gleichzeitig Modelle seiner Werke, waren die Dadaisten, die Surrealisten, die Künstler des Montparnasse, die Amerikaner der Lost Generation, Gertrude Stein mitsamt Entourage inklusive ihres frisch ondulierten Pudels; schlichtweg die internationale Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

"Was mich interessiert, ist das menschliche Gesicht", meinte Man Ray (1890-1976). Als Emmanuel Rudnitzky russisch-jüdischer Abstammung in Pennsylvania/USA geboren, wollte Man Ray eigentlich Malerei studieren, wandte sich aber, ermutigt von Alfred Stieglitz, der Porträtfotografie zu, ging 1921 nach Paris, wo er in der Rue Campagne-Première No. 31 ein Atelier eröffnete, das bald zum legendären Epizentrum von Literaten, Schauspielern und Tänzern mutierte. Der Maler, Foto- und Objektkünstler war fotografischer Chronist und Teil der Szene. Als Impulsgeber der modernen fotografie und des Experimentalfilms arbeitete er früh mit Spiegelungen, Doppelbelichtungen, Fotogrammen, Solarisationen und Bildcollagen.

Exakt 12.304 Glasnegative wurden in den letzten fünf Jahren vom Man-Ray-Archiv, beheimatet im Pariser Centre Pompidou, katalogisiert und digitalisiert. Das Ergebnis ist ein wortwörtlich fantastisches Kaleidoskop einer fantastischen Epoche. Nicht nur die grandiosen, artifiziellen Fotos bekannter Künstler wie Duchamp, Cocteau, Dalí, Picasso, Matisse, Braque, Coco Chanel, de Chirico, Papa Hem mit Sohn Bumby, Elsa Schiaparelli, Satie, Schönberg, Proust, Pound oder Lebensgefährtin Meret Oppenheim, sondern auch der illustren Demimonde der schillernden Varieté-, Film- und Kleinkunstszene imaginieren eine Zeitreise zu exzentrischen Persönlichkeiten oft wunderbarer Physiognomien. Bei seinen Inszenierungen ließ Man Ray aber keinen Zweifel bezüglich der Poseure: "Das Modell muss genial sein. Aber verlassen Sie sich nie aufs Modell, sondern immer nur auf sich selbst." (Gregor Auenhammer/ DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.6.2011)